Unterm Strich
Wahrnehmung hat die Politik, ohne Unterschied der Parteien, das Heft des Handelns an ein weitgehend anonymes ökonomisches System verloren und bringt nicht genügend Entschlossenheit auf, es diesem wieder abzuringen (von der Linkspartei erwartet in Deutschland allenfalls eine verschwindend kleine Minderheit eine Lösung der Krise).
Die Bundestagsdebatten mögen für den differenzierenden und gutinformierten Zuhörer Unterschiede zwischen den Parteien aufzeigen. Finanzmarkttransaktionssteuer oder Finanzmarktaktivitätssteuer, das ist hier die Frage! Aber für das breite Publikum zählt im Sinne von Helmut Kohl nur, »was hinten herauskommt«. Solange nichts herauskommt, was weitere Nachbeben der Finanzkrise mit Schwerstbeschädigungen verhindert oder zumindest deutlich dämpft, und solange nicht auszuschließen ist, dass weitere Rettungspakete in unfassbaren Dimensionen geschnürt werden müssen, die eines Tages womöglich dem Steuerzahler in Rechnung gestellt werden, so lange wird sich der Unmut noch steigern. Er drückt sich bereits da und dort in Demonstrationen und Streiks gegen massive Sparprogramme aus. Die Finanzkrise könnte am Ende eine Krise unseres wirtschaftlichen Ordnungssystems und der Parteiendemokratie bewirken.
In der Gegenüberstellung mit den anonymen Mächten des »Marktes« verliert die Politik. Es sei denn, sie ist in der Lage, zu erklären, warum ein stabiler und funktionsfähiger Finanzdienstleistungssektor im Interesse ausnahmslos aller Bürger ist; warum Deutschland ein vitales Interesse daran haben muss, den Euroraum und die Währungsunion zu stabilisieren; warum es weniger um Griechenland, sondern vielmehr um das europäische Projekt geht und warum dieses Projekt in einer sich ändernden Welt mit erkennbaren Machtverschiebungen von existenzieller Bedeutung für uns ist. Nur über eine solche Aufklärung kann die Politik verlorenes Vertrauen wiedergewinnen und verhindern, dass die Stimmung sich dauerhaft gegen sie wendet.
Aufklärung setzt jedoch ein Erklärungsmuster voraus, eine Vorstellung von Wirtschaft und Gesellschaft, von Deutschlands Rolle in Europa, von Europas Rolle in der Welt. Und sie erfordert einen »Kompass«, der es ermöglicht, dieser Vorstellung geradlinig und unmissverständlich zu folgen. Viele Menschen haben den Eindruck, dass es den Politikern nicht nur an verlässlichen Vorstellungen, sondern auch an einem solchen Kompass fehlt.
Überholte Rituale - neue Zumutungen
Bis zum 7. Oktober 1979 waren die politischen Verhältnisse der Republik einigermaßen überschaubar und aus Sicht der vier bundesrepublikanischen Gründungsparteien CDU, CSU, SPD und FDP auch in Ordnung. An diesem Tag zogen mit der Bremer Grünen Liste (BGL) zum ersten Mal die Grünen in ein Landesparlament ein. Dreieinhalb Jahre später, am 6. März 1983, gelang ihnen mit 5,6 Prozent der Zweitstimmen erstmals der Sprung in den Deutschen Bundestag. 1985 wurde die erste rot-grüne Koalition in Hessen gebildet.
Die »Altparteien« hatten die Wucht neuer gesellschaftlicher Strömungen, auf deren Transparenten Umweltschutz, Frauenemanzipation und Abrüstung standen, unterschätzt. Diese Bewegungen verschafften sich in der neuen Partei politisch organisierten Ausdruck. Das alte, über Jahrzehnte fest etablierte Dreiparteiensystem wurde abgelöst. Es hat sich inzwischen zu einem Fünfparteien- beziehungsweise Sechsparteiensystem erweitert, je nachdem, wie man den gemeinsamen Fraktionsstatus von CDU und CSU angesichts regelmäßig aufspringender Divergenzen interpretiert. Es werden Wetten angenommen, ob das Parteienspektrum in Deutschland am Ende des Jahrzehnts noch so aussieht, wie es sich heute im 16. Deutschen Bundestag abbildet.
Die Entwicklung zum Vielparteienstaat, verbunden mit erheblichen Einbußen der großen Parteien, ist Ausdruck starker Veränderungen unserer Gesellschaft. Die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik klar geschichtete, von wenigen, streng definierten sozialen Milieus mit verhältnismäßig festen parteipolitischen Präferenzen gekennzeichnete Gesellschaft gibt es so nicht mehr. Sie ist einer heterogenen, in viele Milieus zerfallenen Gesellschaft mit vielfältigen Lebensstilen und Lebensentwürfen - bestimmt von einem fundamentalen Rollenwechsel der Frauen - gewichen. Diese Ausdifferenzierung der Gesellschaft spiegelt einen kulturellen Wandel: Unsere Gesellschaft ist individualistischer, pluralistischer und mobiler geworden.
Dieser Trend hat zur Erosion der Stammwählerschaffen
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