Unterm Strich
von Volksparteien beigetragen. Sowenig sich heute die SPD auf eine homogene und aufstiegsorientierte Arbeitnehmerschaft mit starken gewerkschaftlichen Truppen und einer großstädtisch geprägten Angestelltenschicht stützen kann, wenn sie auf mehr als 35 Prozent bei Bundestagswahlen kommen will, so wenig werden der Union die ihr früher fest zur Seite stehenden (sozial-)katholischen, nationalkonservativen und ländlich geprägten Wähler reichen, um über die 40-Prozent-Grenze zu springen.
Großorganisationen jedweder Ausrichtung, die ihren Einfluss darauf gründen, dass sie so viele Mitglieder wie möglich auf ein verbindliches Statut und ein gemeinsames Auftreten verpflichten, entsprechen immer weniger den individuellen Lebensentwürfen. Längerfristige oder auch lebenslängliche »Verhaftungen« dieser Art werden gemieden. Das merken nicht nur politische Parteien, Gewerkschaften, Verbände, sondern auch die Sportvereine. Das Fitness-Studio um die Ecke bietet alle Vorteile der Flexibilität und auch der Anonymität. Das Vereinsleben hingegen verlangt Einordnung und regelmäßige Beteiligung, eventuell sogar die Übernahme von Pflichten. Das Streben nach Individualität verträgt sich nicht mit der Einordnung ins Kollektiv. Folglich wird das Verhältnis von Distanz und Nähe gegenüber Gemeinschaften, Vereinen und ähnlichen Zusammenschlüssen selbstbestimmt gestaltet - private Beziehungen nicht ausgenommen.
Die Zellteilung der Gesellschaft in Gruppen, Communities, Initiativen auf lokaler Ebene mit vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten und unterschiedlichsten Anliegen - bis hin zum Engagement in Nichtregierungsorganisationen mit weltweitem Wirkungsanspruch - verweist auf ein grundsätzliches politisches Interesse, das sich jedoch außerhalb der Parteien artikuliert. Das Internet sorgt für Austausch- und Verbreitungsmöglichkeiten, die diesem Teil der Öffentlichkeit einen breiten, von der etablierten Politik bisher unterschätzten Raum verschaffen. Die zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüsse wissen sich inzwischen sehr viel besser zu artikulieren als früher und sind überdies bereit, ihren Interessen mit erheblichem Nachdruck Geltung zu verschaffen.
Während sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse im wirtschaftlich-technischen Wandel von Grund auf verändert haben und die gesellschaftliche Landschaft völlig umgekrempelt wurde, folgen die Parteien unverändert Kommunikations- und Organisationsritualen, die es schon vor 30 und 40 Jahren gegeben hat. Gleichzeitig ist das Wählerverhalten mit der Auflösung sozialer Milieus wechselhafter und unberechenbarer geworden; der Trend wird zunehmen, dass die Bürger - wenn sie denn zur Wahl gehen - ihr Kreuz nicht mehr unbesehen ein und derselben Partei widmen. Einige werden in ihrem Leben möglicherweise das gesamte Parteienspektrum durchlaufen.
Auch die Bereitschaft, Mitglied einer politischen Partei zu werden und sich auf Jahre politisch zu binden, kollidiert mit dem Trend zur Individualisierung. Das gilt insbesondere im Hinblick auf jüngere Generationen. Nach meiner Erfahrung aus Diskussionen mit Schülern, Studenten und Auszubildenden sind diese zwar politisch keineswegs so desinteressiert, wie ihnen gemeinhin vorgeworfen wird. Sie empfinden es aber als reichlich »uncool«, einer politischen Partei anzugehören. Abgesehen davon, dass sie Parteien ähnlich prickelnd finden wie Stützstrümpfe, halten sie sich instinktiv von allen Organisationen und Vereinen fern, die ihre persönlichen Wahlmöglichkeiten und Spielräume einengen könnten. Das schließt ihre Bereitschaft, zeitlich befristet an Projekten politischen Inhalts mitzuarbeiten, allerdings nicht aus.
Viele der Erfahrungen und Erkenntnisse, die vor allem junge Menschen in dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungsprozess machen, stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den Ritualen der politischen Parteien. Parteitage mit Defiliermarsch beim Einzug und minutenlangen Klatschorgien, nicht enden wollende Palaverrunden im Fernsehen, rhetorische Tiefschläge in den Parlamentsdebatten, inhaltsleere Interviews, von denen nicht mehr hängenbleibt als die wüsten Beschimpfungen der politischen Kontrahenten: Der Glaubwürdigkeitsverlust der Politik ist davon geprägt, dass sich das Bild, das die Politik von der Realität zeichnet, von der Wahrnehmung weiter Teile der Bevölkerung entkoppelt hat.
Diesem Auseinanderdriften liegt allerdings weniger eine Realitätsverweigerung der Politik als vielmehr
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