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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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bis hin zu christlichen Tugendwächtern - waren mir schon immer suspekt. Also bin ich ganz froh, dass Karl Popper gegen Karl Marx gewonnen hat.
    Ich bin allerdings nicht blind gegenüber den Folgen, die dieser Sieg der Vernunft kostet. Einer der Nebeneffekte der weitgehenden Entideologisierung ist die Entkernung der Politik. Im Verschwinden begriffen ist ja nicht nur die Borniertheit der Ideologen; es geht auch viel an idealistischem Ungestüm und utopischer Aufladung verloren. Wesentliche Unterscheidungsmerkmale der politischen Parteien sind deshalb verschwommen. Darüber nimmt ihre Bindekraft ab, was sich im Wähler- und Mitgliederschwund ausdrückt. Ein Zuviel an Ideologie - das noch die Wahlkämpfe meiner politischen Anfangsjahre bestimmte - ist einem Mangel an Idealismus gewichen, mit der Folge, dass es den politischen Parteien heute sehr viel schwerer fällt, Mitglieder, Anhänger und Wähler zu mobilisieren.
    Der Politik werden aus zwei Richtungen Attraktivität und Zustimmung entzogen. Einerseits wird ihr die handwerkliche Kompetenz zur Lösung der aktuellen Probleme abgesprochen. Andererseits wird ihr ein Mangel an ideeller Vorstellungskraft vorgeworfen; sie gebe keine Antwort auf die Frage, wie denn ein über die Tagespolitik hinausweisender Entwurf von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Dieses Defizit kann einen nicht ungefährlichen Sog auslösen. Viele Menschen erwarten von Politik nicht nur ein professionelles Krisenmanagement. Sie wollen auch ihren emotionalen Bedarf an Hoffnung berücksichtigt wissen und suchen dementsprechend nach Angeboten. Insbesondere dann, wenn sie verunsichert sind und ihre Zukunft verstellt sehen.
    Anfälligkeiten für Angebote, die auf Irrwege führen, sind nicht völlig auszuschließen. Die historischen Erfahrungen - insbesondere die Verführbarkeit der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - haben mir eine tiefe Skepsis gegenüber Visionen und Utopien eingepflanzt. Umso mehr fühle ich mich jenem politischen Pragmatismus zu sittlichen Zwecken verbunden, den Helmut Schmidt als Maxime politischen Handelns formuliert hat.
    Er mag nicht viel Glanz ausstrahlen, aber er ist mit Sicherheit ungefährlich. Ein pragmatischer Ansatz scheint mir einer Welt zunehmender Verflechtungen, Ambivalenzen und Komplexitäten am besten zu entsprechen, nicht zuletzt, weil er sich fortwährend selbst korrigiert. Pragmatische Politik ist weder gleichzusetzen mit wertfreiem Tun, noch bedeutet sie einen Verzicht auf politische Gestaltung. Sie ist von sittlichen Normen geleitet und steht in der abendländischen Tradition. Aber sie akzeptiert, dass ihre Reichweite begrenzt ist.
    Leider erwecken politische Parteien mit ihren Grundsatz- und Wahlprogrammen den Eindruck, sie könnten fast alle Lebens- und Arbeitsverhältnisse zum Besseren wenden, wenn man sie nur ließe. An solchen manchmal zu Versprechen gesteigerten Ankündigungen werden sie gemessen und scheitern dann regelmäßig. Auf der anderen Seite werden die Politikangebote vor dem Hintergrund der Entideologisierung und unter dem Druck globaler Probleme immer einheitlicher. Sie sind immer weniger zu unterscheiden - und stiften dementsprechend immer weniger Identität für Parteimitglieder und Stammwähler. Die CDU sozialdemokratisiert sich. Aus der Sicht des einen Flügels der SPD hat sich der andere Flügel mit der Agenda 2010 »neoliberalisiert«. Die Grünen haben den Gestus der Protestpartei längst abgelegt und ihre Alleinstellungsmerkmale verloren; sie nähren sich heute überwiegend aus dem (bildungsbürgerlichen Teil ihrer Wurzeln.
    Die FDP ist in diesem Vergleich diejenige Partei mit dem höchsten Ideologiegehalt. Dementsprechend verkünden ihre Matadore vor jeder Wahl großspurig einen Politikwechsel, eine »geistig-politische Wende« gar, bieten hinterher beim Wechsel auf die Regierungsbank aber ein selten klägliches Erscheinungsbild. Ihr grandioses Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2009 scheint die FDP als eine Zustimmung zu ihrer Ideologie missverstanden zu haben, so als ob Staat und Markt in einem unversöhnlichen Gegensatz stünden und »privat« gegen »Staat« auszuspielen sei. Dabei dürfte ein Drittel ihrer Wähler vom September 2009 reine Protestwähler vornehmlich aus dem Fleisch von CDU/CSU gewesen sein, die gegen eine Fortsetzung der großen Koalition waren. Und für die Mehrzahl ihrer übrigen Wähler wäre ein solides und kompetentes Regierungshandeln weitaus

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