Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
Vom Netzwerk:
danach, dieser Gleichförmigkeit zu entfliehen, ohne in die ideologische Mottenkiste zu greifen. Um öffentliche Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, folgen sie dem Trend der »Boulevardisierung« von Politik (Hubert Kleinert) und suchen den Pakt mit den Medien, insbesondere dem Fernsehen. Von den Folgen war bereits ausführlich die Rede.
    Was nun bedeutet der doppelte Legitimationsdruck - Kompetenz unter Beweis stellen und sich zugleich vom politischen Gegner unterscheiden müssen - für die Zukunft der Parteiendemokratie?
    Als Erstes werden die Parteien aus ihrer Selbstbezogenheit ausbrechen und die Barrikaden überwinden müssen, die sie sich selbst errichtet haben. Um auch künftig die Vermittlung von Politik beanspruchen und das für die demokratische Willensbildung notwendige personelle Rekrutierungsreservoir bilden zu können, werden sie sich öffnen müssen für Nichtmitglieder. Sie werden öffentliche Veranstaltungsformate akzeptieren und den Anschluss an Leistungseliten und zivilgesellschaftliche Organisationen suchen müssen. Letztere haben einen größeren Zulauf als sie. Sie werden neue Formen der Beteiligung und Mitsprache anbieten müssen (Konvente, Plebiszite, Mitgliederbefragungen, virtuelle Ortsvereine, also Chat-Gruppen im Internet, an denen sich auch die beteiligen können, die für einen Parteiabend nicht die Zeit haben).
    Die Attitüde des Rechthabens hat sich in einer komplexen Welt mit zunehmenden Variablen und Alternativen ebenso überholt wie die reflexartige Frontstellung gegenüber Widersachern. Nichts ist inzwischen mehr ohne sein Gegenteil wahr. Parteien werden in ihren Reihen also »Traditionsmeinungen« zurückdrängen, die Wächter der Rechtgläubigkeit ins Abseits stellen und neue Herausforderungen ohne Scheuklappen annehmen müssen. Sie werden ihre Texte und Reden von Phraseologien befreien und lernen müssen, dass die Kämpfe um Spiegelstriche oder der Vollzähligkeitswahn in Anträgen und Programmen herzlich wenig mit Politik zu tun haben. Die Gespräche »unter vier Augen«, in denen sich der eigene kritische Sachverstand gegen den reformresistenten Parteikodex auflehnt, die aber aus Angst vor kollektivem Liebesentzug nur hinter vorgehaltener Hand geführt werden, müssen aus dem Schattendasein in eine parteiöffentliche kontroverse Debatte überführt werden. Und da dürfen ruhig die Fetzen fliegen.
    Vor allem aber wird die Personalauswahl auf völlig neue Grundlagen gestellt werden müssen. Sie ist an der Reichweite einer Kandidatin oder eines Kandidaten über die Grenzen der Partei hinaus auszurichten. Das erfordert andere Eigenschaften und Profile als im parteiinternen Schönheitswettbewerb. Der klassische Parteipolitiker, ein hundertprozentig Eingefärbter, ein Sprachrohr ohne Eigenschaften, ein »Funktionär«, findet in der breiten Wählerschaft heute keinen Anklang mehr. Er stößt im besseren Fall auf Desinteresse, ansonsten weckt er Widerwillen.
    Mein Wunschkatalog bietet natürlich keine Gewähr für einen Fortbestand der Parteiendemokratie, wie wir sie heute kennen. Ich fürchte, dass die Gründe für den Verlust an Ansehen und Glaubwürdigkeit der Parteien - eklatant im Falle der Volksparteien - tiefer reichen und mit den beschriebenen Deformationen und Fehljustierungen allein nicht zu erklären sind. Sofern sich die Bürger der Wahl nicht verweigern - bei der Bundestagswahl 2009 gab es immerhin ein Drittel Nicht-Wähler -, stimmen immer weniger für die Partei ihrer Überzeugung, immer mehr gegen die Partei(en) ihres Verdrusses. Oppositionsparteien werden nicht in die Regierungsverantwortung gewählt, sondern Regierungsparteien werden abgewählt. Am Ende könnte sich die Unzufriedenheit mit den Parteien und der Politik insgesamt auch gegen den Parlamentarismus und die Demokratie als solche wenden.
    Mit Blick auf die dramatische Entwicklung der Finanz- und Wirtschaftskrise während der letzten drei Jahre fällt auf, dass sich die Kritik an der Untätigkeit und Unfähigkeit der Politik, den Finanzkapitalismus zu zähmen, den Finanzsektor an den Kosten der von ihm verursachten Krise zu beteiligen und die Angriffe auf den Wohlstand ganzer Nationalstaaten zu unterbinden, nicht auf die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien richtet, ja nicht einmal auf »die« Regierungen insgesamt. Vielmehr sehen die Bürger (nicht nur in Deutschland) die Politiker als Getriebene in einer eskalierenden Krise mit bedrohlichen und noch lange nachwirkenden Folgen. In ihrer

Weitere Kostenlose Bücher