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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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wohlfühlen.
    Die größte Chance, die Definitionshoheit über die politische Mitte in Deutschland zu gewinnen - da, wo Wahlen gewonnen werden -, hätte diejenige politische Kraft, die zwischen den Polen Staatsgläubigkeit und Staatsverachtung, Marktversessenheit und Marktvergessenheit, privater Gewinnsucht und wohlfahrtsstaatlicher Rundum-Bedienung oder zwischen der Belastungsfähigkeit der »produktivistischen Klasse« (Peter Glotz) und den Solidaransprüchen von Bedürftigen ein praktikables und finanzierbares Angebot entwickelt. Kommt dann noch der Mut zur Verantwortung hinzu, kann sich die Politik verlorengegangene Achtung zurückgewinnen. Es könnte ein Ansatz sein, ihr aus dem Tal des öffentlichen Ansehens heraus- und über das Gebirge der Herausforderungen hinwegzuhelfen.
Vom Hürdenlauf der Reformen
    In dem Jahrhundertroman Der Leopard - Il Gattopardo von Tomasi di Lampedusa sagt der vom Aufbruch mitgerissene, fast revolutionär gestimmte Tancredi zu seinem Onkel, dem Fürsten von Sahna, einem Mann der Zeit vor dem »Risorgimento«, der Einheitsbewegung in Italien Mitte des 19. Jahrhunderts: »Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.« Das ist das Fortschrittsparadoxon in reinster Form. Anders gewendet: Wenn wir vieles von dem erhalten wollen, was sich bewährt hat und von der Zeit nicht weggespült werden soll - Demokratie, Wohlstand, sozialer Friede -, dann müssen wir uns sputen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
    Dieses Paradoxon zu begreifen fällt ideologisch geprägten Konservativen und Strukturkonservativen, die über das gesamte politische Spektrum verteilt sein können, schwer. Ihre Verweigerungshaltung und ihre Vetomacht, Veränderungen und Anpassungen Raum zu geben, führen irgendwann zu Explosionen oder Implosionen, die von einer bestimmten Größenordnung an für viele lebensgefährlich werden.
    Der politische Ausdruck einer solchen Erneuerung ohne Systembruch, ohne Verletzte, Verfolgte, Verfemte oder sogar Tote ist die Reform. Die Bereitschaft und die Fähigkeit einer Gesellschaft zu Reformen entscheiden über ihren Entwicklungsstand und ihr »Überleben«. Je mehr der Druck von außen oder innen auf ein gesellschaftliches oder wirtschaftliches System zunimmt, je komplexer die Verhältnisse sind und je länger die Anpassungen ausbleiben, desto größer wird der Reformbedarf.
    Nun gibt es kaum einen politischen Begriff, dessen Ausstrahlungskraft in den letzten Jahren in Deutschland so verblasst ist und der als Projektionsfläche für hochfliegende Erwartungen so tief abstürzte wie »Reformpolitik«. Wie der Teufel das Weihwasser scheut die Politik heute den Begriff; offenbar wiederholt sich die historische Erfahrung, dass jeder Reformzyklus in Enttäuschung, in Reformmüdigkeit und tendenzieller Gegenreform endet, wie Ralph Bollmann es beschrieben hat. Dabei hatte das Wort »Reform« beim Wechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder im Jahr 1998 einen guten Klang. Nach einem jahrelangen Reformstau - übrigens das »Wort des Jahres« 1997 - war Reformpolitik für die »neue Mitte« ein Versprechen, das Land aus der bleiernen Zeit der neunziger Jahre herauszuholen und wirtschaftliches Wachstum, soziale Gerechtigkeit und ökologische Vernunft zusammenzuführen. Reformpolitik hieß damals, endlich im 21. Jahrhundert anzukommen. Offenbar bedeutete Reformpolitik für viele aber auch mehr staatlichen Schutz gegen die Risiken und Turbulenzen des wirtschaftlich-technischen Wandels durch eine verbesserte finanzielle und soziale Absicherung.
    Fünf Jahre später hat ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundeskanzler mit der Agenda 2010 das Image des Begriffs Reform gründlich umgekrempelt. Politik wurde unbequem, weil sie - im März 2003 etwas plötzlich und überraschend - schmerzhafte Wahrheiten aussprach und notwendige Konsequenzen zog. Reform hieß plötzlich Verzicht, aber auch mehr Eigenverantwortung und weniger Staatsgläubigkeit.
    Das wollten und wollen viele Menschen nicht. Sie haben nach wie vor den Anspruch an die Politik, dass sie vor Veränderungen beschützt, nicht, dass sie darauf vorbereitet werden. Und die Politik hat viel zu lange so getan, als stünde es in ihrer Macht, ein ganzes Land in einen Kokon einzuhüllen und gegen die Widrigkeiten der Globalisierung, Digitalisierung und Demographie abzuschirmen.
    Auf der anderen Seite stehen die Menschen, denen Reformen nie schnell, radikal und umfassend genug sein können. Es sind die Maximalisten á la Hans-Olaf

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