Unterm Strich
unveräußerlicher Besitzstand.
Wettbewerb? Keine Frage, aber nicht für Apotheken! Vereinfachung des Steuerrechts, möglichst im Format eines Bierdeckels? Na klar, aber der reduzierte Mehrwertsteuersatz für bayerische Seilbahnen (auf Initiative der CSU) muss ebenso erhalten bleiben wie der für Hotels (Initiative von FDP und CSU), mit der Folge von ellenlangen Durchführungsbestimmungen der Finanzverwaltung. Entbürokratisierung? Unbedingt, aber selbstredend muss der Krümmungsgrad von Kleiderhaken in Schulen normiert sein.
Dass Reformen inzwischen so willkommen sind wie Zahnschmerzen, ist nicht nur der Politik anzukreiden. An den zahllosen Reformen und Scheinreformen der vergangenen Jahre haben viele mitgewirkt und mitgebastelt, durch direkte oder indirekte Einflussnahme, durch öffentliche Drohgebärden und in Hinterzimmern, in öffentlichen Kommentaren und Kampagnen. Viele waren dabei: »Experten« aus allen Himmelsrichtungen, das gut aufgestellte Heer der Lobbyisten, die Corona der Landespolitiker, Populisten, Journalisten und viele andere. Es gibt keine Reform, die nicht in zahllosen Interviews und Talkshows zerredet, in zahllosen Gremien in ihre Einzelteile zerpflückt und geräuschvoll wieder zusammengesetzt worden wäre. Das Resultat war stets etwas Halbfertiges mit vielen falschen Details - Stichwort Rechtschreibreform oder Gesundheitsreform. Nach zahllosen Erlebnissen dieser Art wenden sich noch die letzten Gutwilligen, die von einer Reform tatsächlich eine Verbesserung erwarten, mit Grausen ab.
Die Agenda 2010 war eine Reform, die diesen Namen verdiente - und den Begriff gleichzeitig diskreditierte, ihn bis heute, jedenfalls in der Sozialdemokratie, fast unaussprechlich gemacht hat. Die Agenda 2010 kam für viele zu plötzlich, geradezu überfallartig. Sie war in Teilen schwer verständlich und nur mit einem großen Aufwand erklärbar. Weil sie eigentlich zu spät kam, musste sie tiefer greifen als andere Reformen zuvor. Sie enthielt, über ihre Substanz hinaus, das unmissverständliche Signal, dass die Zeit der einfachen Antworten - mehr Staatsausgaben! - und der Wirklichkeitsverdrängung auch in Deutschland vorbei war. Und sie stand für eine politische Kultur der Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern, indem sie ihnen ohne Rücksicht auf Opportunität und Popularität ungeschminkte Wahrheiten sagte. Dafür steht sie noch heute.
Die Globalisierung mag vielen wie eine Argumentationskeule gegen den Sozialstaat alter Prägung und wie ein Zuchtmittel zur Anpassung vorkommen. Aber sie ist und bleibt ein Faktum, das angenommen werden muss, weil sie irreversibel ist. Die Agenda 2010 fegte Illusionen weg. Sie selbst aber litt ebenfalls unter einer Illusion: dass eine Reform dieses Umfangs ex cathedra verkündet und umgesetzt werden kann, dass es genügt, an den Verstand der Menschen - und der eigenen Partei - zu appellieren, aber das Bauchgefühl und die Verlustängste nicht mitzuberücksichtigen. Wenn die politische Kraft - in diesem Fall die SPD -, die diese Reform gegen den Strich eigener Positionen und Überzeugungen, aber im übergeordneten Interesse des Landes verkündet und vorangetrieben hat, dafür dann mit Liebesentzug, schmerzhaften Wahlniederlagen und Mitgliederverlusten bestraft wird, dann schmeißt sie den Reformmotor so schnell nicht wieder an. Zumal viele der seinerzeitigen Einpeitscher, die nach einer umfassenden Erneuerung schrien - auch und gerade im medialen und unternehmerischen Umfeld -, der Versenkung der SPD vom ersten Rang der Politbühne aus teilnahmslos, wenn nicht genüsslich zusahen. Politischen Selbstmord wird man einer traditionsreichen und -bewussten Partei nicht abverlangen können.
Die Chancen, für eine grundlegende Reform öffentlichen Beifall oder Unterstützung zu finden, sind nicht erst wegen der Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 geringer geworden. Für das Gemeinwohl notwendige Veränderungen durchzusetzen fällt auch deshalb immer schwerer, weil die Gesellschaft zunehmend einem Prozess der »Zellteilung« in einzelne Gruppen unterliegt, die ihre eigenen, zum Teil sehr speziellen Interessen verfolgen und dafür auch die Unterstützung parlamentarischer Advokaten und Schutzpatrone finden.
Die politische Theorie besagt, dass es zu viele Vetospieler gibt, die eine Reform torpedieren und blockieren können. Sie stellen die Interessen ihres Wahlkreises, ihres Bundeslandes, ihrer Partei oder ihrer Klientel über das Interesse des Gemeinwohls. (Eine ambitionierte
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