Unterm Strich
Henkel, die in Wort und Bild für immer weitere Beschleunigungen des Reformzuges eintreten - und die Waggons, die diese Geschwindigkeit nicht halten können und hinten aus den Gleisen springen, als notwendige Kollateralschäden in Kauf nehmen. Um ihre Insassen hat sich dann gefälligst die Politik als Betriebsdoktor der Gesellschaft zu kümmern - dieselbe Politik, die für unfähig, zu konsensorientiert, sträflich langsam und inkompetent erklärt wird und die das Land angeblich zielsicher in den Abgrund führt. Diese Reformmaximalisten träumen von einer Entstaatlichung, weil sie nur noch sich selbst, nicht dem Staat vertrauen. Sie kämpfen für mehr Markt und weniger Steuern, was sie mit mehr Freiheit gleichsetzen.
Den Radikalmodernisierern fehlt die Antenne dafür, dass nicht alle Haltegriffe des Sozialstaats abgeschraubt werden dürfen - zum Beispiel Tarifautonomie, Mitbestimmung, Kündigungsschutz und sozialstaatliche Absicherung -, wenn man die Menschen nicht verstört in Lethargie versetzen, sondern sie vorwärtsbewegen will. Und es fehlt ihnen der Sinn dafür, dass ihre Maximalpositionen und ihr Tempo Widerstand geradezu provozieren und eine Gegenbewegung, eine Gegenreformation auf den Plan rufen.
Die Reformminimalisten halten soziale Besitzstände grundsätzlich für unantastbar. Sie wollen Adenauers Wahlparole der fünfziger Jahre - »Keine Experimente!« - über den schwankenden Boden des beginnenden 21. Jahrhunderts hängen und der Staatsvergessenheit der Maximalisten ihre Staatsversessenheit entgegenstellen. Sie verteidigen Strukturen auch dann noch, wenn absehbar ist, dass diese morsch werden und ihr Einsturz sozial und finanziell weitaus teurer kommt als eine rechtzeitige Generalrenovierung.
Beide - Maximalisten wie Minimalisten in mehr oder minder abgestuften Schattierungen - sind die größten Verhinderer von ausbalancierten Reformen. Sie machen denjenigen politischen Kräften das Leben schwer, die in Reformen keine Erlösung sehen, sondern einen langwierigen Prozess, das Bohren dicker Bretter, weit weniger spektakulär als die Auftritte der modernen Entfesselungskünstler oder der Medizinmänner von gestern. Die Handwerker sehen in Reformen einen häufig erratischen Prozess, der notwendig ist, wenn Risse oder gar Brüche in Wirtschaft und Gesellschaft vermieden werden sollen. In der Evolutions- und Systemtheorie leuchtet offenbar ein, was in der politischen Praxis sehr viel schwerer fällt.
Die pragmatische Fraktion folgt der Überzeugung, dass der Wandel angenommen werden muss. Sie hängt realistischerweise nicht dem Trugbild an, dass Politik den Wandel im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung und angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung wirklich steuern kann. Was nicht heißt, sich diesem Wandel devot zu ergeben. Den Wind kann man nicht beeinflussen, nur das Segel. Oder, um eine andere Metapher zu gebrauchen: Man kann den Wind nicht verbieten, aber man kann Windmühlen bauen. Diese pragmatische Fraktion folgt der Einsicht, dass erfolgreiche Reformen eine Frage des Timings, der Geschwindigkeit, des Austarierens von Interessenlagen und - auch und gerade - der Kommunikation sind.
Reformradikalismus und Reformaversion treffen und verstärken sich - aus unterschiedlichen Gründen und Motiven - in der Kritik gegenüber Reformvorhaben, die sich um einen zukunftsfähigen Weg zwischen Aktionismus und Unterlassung, Zukunftsinteressen und Gegenwartsinteressen, Privilegierung und Benachteiligung bemühen. Die vereinte Kritik derjenigen, denen ein bestimmtes Reformvorhaben zu weit geht, und derjenigen, die in jedem Fall Tempo und das schnittige Design vermissen, erzielt allzu häufig eine geballte Trefferwirkung, sodass sich Reformen bis zur Unkenntlichkeit verfremden und meilenweit von den ursprünglichen Absichten entfernen. Die Unzufriedenheit ist auf beiden Seiten vollkommen. Modernisierungseliten und Traditionsbataillone fühlen sich nachträglich gleichermaßen bestätigt und motiviert für den nächsten Anwurf. »Lockerung des Kündigungsschutzes« steht auf der Fahne der einen und »Die Rente mit 67 muss weg« auf der Fahne der anderen.
Weit im Vorfeld von Regierungs- und Parlamentsberatungen und lange vor irgendwelchen Beschlüssen werden Reformvorhaben durch den medialen Wolf gedreht, ehe dann zwischen Koalitionspartnern, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat meistens in nächtlichen Sitzungen der kleinste gemeinsame Nenner gefunden wird. Dieser wird
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