Unterm Strich
statt auf eine Bestenauslese zu setzen -, obsiegt jener biegsame und windschlüpfrige Typus, der sich nicht gleich festlegt, aber sich rechtzeitig dorthin schlägt, wo er die Mehrheitsmeinung vermutet. Die Wortmeldungen in den Parteigremien geraten zu einer Ansammlung von Schlüsselwörtern und Chiffren, die auch die Zugehörigkeit zu parteiinternen Glaubensrichtungen signalisieren sollen. Mit Allgemeinplätzen versetzt, gerinnen diese anschließend in der Öffentlichkeit zu Reden, »in denen sich der gängige Politjargon mit akademisch-bürokratischer Umständlichkeit zu einer Sprache der Sprachlosigkeit mischt«.
Im Deutschen Bundestag entstammen über 40 Prozent der Abgeordneten dem öffentlichen Dienst. Die regelmäßige Präsenz in den Parteigremien - eine unendliche Abfolge von Sitzungen - und die stete Tuchfühlung mit den Parteiaktivisten im Basislager lassen eine Horizonterweiterung kaum zu, geschweige denn den Blick in andere Teile der Welt. Den globalen wirtschaftlichen Wandel und die geopolitischen Verschiebungen mit ihren Auswirkungen auf Europa versteht man aber nur, wenn man die eigene politische Scholle regelmäßig verlässt und unmittelbare Erfahrungen durch Besuche in den USA, China, Indien, Lateinamerika oder in der Golfregion sammelt.
Der Prozess der personellen Auszehrung der Politik ist inzwischen weit fortgeschritten. Ob sich die Sehnsucht der Bürger zuvörderst auf Politiker eines »profilstarken Realismus« mit bestandenem Härtetest, auf Hoffnungsträger mit visionärer Kraft, auf Führungspersönlichkeiten mit hohen kommunikativen Fähigkeiten oder schlicht auf »neue Gesichter« richtet: Politiker, denen die Bürger vertrauen sollen, dürfen allenfalls eine verschwindende Ähnlichkeit mit denen aufweisen, die gemeinhin als klassische Parteipolitiker wahrgenommen werden. Sie müssen eine »Divergenzqualität« besitzen. Auch hierin spiegelt sich die verbreitete Distanz gegenüber dem Parteienwesen wider.
Diese Animosität gegenüber »dem« Parteipolitiker ist weder fair noch angemessen. Denn keine Partei wird ohne eine starke Schicht von Politikfunktionären und in den Parlamenten, von den Kommunen bis zur Bundesebene, ohne überzeugte und einsatzbereite Parteigänger auskommen. Jeder Spitzenpolitiker hat eine parteipolitische Erdung. Er will, dass die Werte, die ihn in seine Partei geführt haben, auch mit ihm identifiziert werden. Die mir gelegentlich zugerufenen Sätze: »Leider sind Sie ja in der falschen Partei« oder: »Ich habe zwar nicht Ihre Partei gewählt, aber Sie hätte ich gern weiter in der Bundesregierung gesehen«, haben mich mehr gestört, als ich bisher zugegeben habe. Als ob ich ohne parteipolitische Verankerung zu haben wäre, eine Art politischer Söldner!
Das verbreitete ungerechte Urteil der Öffentlichkeit über »die Parteipolitiker« und das allgemeine Gemaule über »die Politik« verdrießen mich. Ich frage mich, warum der Spieß der Parteienschelte - unter Verletzung aller Tabus und Warnungen - nicht auch einmal umgedreht werden sollte. Es sind höchst widersprüchliche Erwartungen, die der Bürger an die Politiker richtet; was er eigentlich von ihnen will, bleibt dabei ziemlich verschwommen. Die Politiker aus dem Bilderbuch sollen mehr arbeiten, mehr wissen und mehr leisten als alle anderen, aber sich möglichst nicht von der Menge abheben. Sie sollen auch nur wenig verdienen oder sich gar dem Gelübde der Armut unterwerfen. Sie sollen zugleich herausragen und Mittelmaß bleiben. Die Bürger wünschen Klartext von Politikern, aber wehe, diese betreten dabei die Beete ihrer Empfindlichkeiten oder sogar Verbotszonen. Die Bürger unterstellen eine Bringschuld, was Information und Aufklärung betrifft, aber auf ihre Holschuld als mündige Staatsbürger sind sie schlecht anzusprechen. Sie beklagen den Verfall politischer Führungskunst, haben aber für einen autoritativen Stil nicht viel übrig. Sie bejubeln aufsteigende Sterne in der Politik und verdammen sie, wenn sie auf ihrer Bahn ausrutschen. Gelingt etwas unter äußersten Anstrengungen, ist es selbstverständlich. Läuft etwas schief, haben sie es kommen sehen und schon immer gewusst. Viele rufen nach politischer Verantwortung, verlangen von den Politikern, Entscheidungen zu treffen und für deren Folgen auch einzustehen, sind aber in ihrem eigenen sozialen oder privaten Umfeld nicht bereit, selbst Verantwortung zu übernehmen. Die Missachtung und Beschädigung öffentlichen Eigentums, der
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