Unterm Strich
anschließend als Durchbruch verkauft. Wie soll man sich auch als Politiker eingestehen, dass der Berg kreißte und eine Maus gebar, eventuell eine, die nicht einmal richtig laufen kann, weil ein Bein in den Verhandlungen leider abhandengekommen ist? Wie will man anders die Gremienhockerei mit stoischem Gesichtsausdruck, aber geballter Faust unter dem Tisch und die aberwitzige Zeitökonomie vor sich selbst rechtfertigen?
Der langwierige Prozess des Aushandelns von Kompromissen und der Erschöpfungszustand aller Beteiligten im Ziel begründen zum einen die mancherorts anzutreffende Sehnsucht nach einem großen Entscheider, zum anderen die politische Halluzination des »Durchregierens«. Selbst in homöopathischer Form widersprechen diese Regungen den demokratischen Grundforderungen nach Beteiligung, Einbindung oder Partizipation. Man soll sich nichts vormachen: Bei Reformvorhaben wie generell bei politischen Entscheidungsprozessen sind Partizipation und Effizienz nicht gleichermaßen und zugleich zu haben. Endlose Redebeiträge dilettierender Amateure und notorischer Querulanten - denen Einhalt zu gebieten angesichts des obwaltenden Mottos »Beteiligt euch!« politisch nicht sehr feinsinnig wäre - konterkarieren jeden Anspruch an effiziente und zeitökonomisch angemessene Verfahren. Alle sollen mitreden, keiner ist verantwortlich! Manches Vorhaben, das in einem effizienteren Verfahren erarbeitet wurde, scheitert schlicht daran, dass ihm die Zustimmung verweigert wird, weil sich Interessenlagen, Befindlichkeiten oder Einsprüche über eine frühzeitige Beteiligung nicht artikulieren und einbringen konnten.
Ich kann aus meinem politischen Leben zwei Beispiele anführen, wie gewichtige politische Vorhaben - wenn auch nicht ganz so gewichtige wie die Agenda 2010 - in einer bemerkenswerten Konsistenz und Stringenz über die Bühne gebracht wurden. Das eine war der bis dahin umfassendste Beitrag zum Subventionsabbau, den der hessische Ministerpräsident Roland Koch und ich im September 2003 in Gestalt der sogenannten »Koch-Steinbrück-Liste« vorlegten und mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat weitgehend realisieren konnten. Dieses Vorhaben gelang aus vier Gründen: reifliche Prüfung in einem kleinen Expertenkreis; absolute Diskretion und keine Wasserstandsmeldungen an die Presse während der Beratungen; der Christdemokrat versuchte nicht, den Sozialdemokraten zu konvertieren, und umgekehrt; keiner instrumentalisierte den anderen gegen seine parteipolitische Heimat. Das gelang - und fand ein erstaunlich positives Echo.
Der andere Fall war die Bankenrettung auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise im Herbst 2008. Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ist in einem sehr problembewussten und gleichwohl zügigen Verfahren verabschiedet worden, das alle Vorbehalte gegen die langsamen Mühlen des parlamentarischen Systems eindrucksvoll widerlegte und seine Handlungsfähigkeit bestätigte.
Reformen haben, anders als Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre und in der ersten Zeit nach der Ära Kohl, keine Konjunktur in Deutschland. Sie werden heute einerseits mit finanziellen Einschnitten und andererseits mit willkürlichen Einschränkungen von Freiheitsräumen assoziiert. Die einen fürchten Reformen, weil sie aus ihrer Sicht mit persönlichen Verlusten verbunden sind. Die anderen verachten Reformen als Stückwerk, als ein Dauerwursteln, das ihnen nicht schnell und nicht resolut genug ist. Sie erwarten sich einen Gewinn aus Reformen - Steuersenkungen, Förderung korporativer Interessen, Privatisierung, Reduzierung von Standards und Normen -, der ihnen persönlich zugutekommt, auch wenn er auf Kosten anderer geht.
Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass Nachteile für Einzelne in der Wahrnehmung stärker gewichtet werden als Vorteile für eine Mehrheit der Bevölkerung. Unmittelbare Verluste aus Reformen zählen mehr als zukünftige Reformrenditen. Andersherum: Die realen Kosten einer Reform wiegen ungleich schwerer als die viel höheren, aber bloß virtuellen Kosten einer unterlassenen Reform. Verluste werden emotional stärker erlebt als Gewinne. Grundsätzliche Reformbereitschaft wird allenfalls so lange bekundet, wie auf einer abstrakten Ebene erörtert und pauschal abgefragt wird. Wer will sich schon als Betonkopf offenbaren? Aber wehe, es wird konkret. Abbau von Subventionen? Ja, gewiss - aber nur bei den anderen. Streichung von Steuersubventionen? Kein Problem, aber die Entfernungspauschale ist
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