Unterm Strich
Konsumentenmentalität nach dem Motto »öfter mal was Neues« mitschwingen. Aber im Kern hat der »Politfunktionär« oder »Parteikarrierist« in der Gunst des Publikums ausgedient. Versehen mit einer tadellosen Parteibiographie und einem unverwechselbaren Stallgeruch, glatt geschliffen bis zur Durchsichtigkeit, wortgeübt bis zur Sprachlosigkeit, katechismusfest und gut vernetzt mit einer Basisstation, aber auf Auswärtsplätzen fremdelnd - ich kann dem Leser die Abwendung von diesem Typus nicht verübeln. Ich kann ihm aber auch kein überzeugendes Pendant gegenüberstellen. Eine Mischung aus Karl Popper und George Clooney, aus Inge Meysel und Albert Einstein wird es nicht geben. Im Ernst gesprochen: Ich glaube, dass viele Bürger nicht nach einem Antipolitiker, sondern nach einem »atypischen« Politiker Ausschau halten.
Der »atypische« Politiker hat sowohl Gesicht als auch Substanz - »face« und »substance«, nach denen die Amerikaner Politiker unterscheiden. Er bewegt sich nicht über allen Parteien, sondern ist durchaus in einer Partei geerdet. Aber er ist weder von seinen Überzeugungen her noch in seinem Auftreten ein Diener oder Sprachrohr seines Parteimilieus. Er bürstet gelegentlich gegen den Strich des parteiverträglichen Kodex und lässt sich von seiner Realitätsdiagnose nichts abkaufen. Er ist von einer Verantwortungsethik geleitet, nicht von einer Gesinnungsethik. Verantwortung heißt für ihn, Führung zu übernehmen und auszuüben, in dem Bewusstsein, dass sich heute weder Kabinette noch Ministerien, Fraktionen oder Parteien autoritär führen lassen. Er kennt sich auf dem medialen Parkett aus, dosiert aber seine Medienpräsenz. Also redet er nur, wenn er etwas zu sagen hat - keine Sprechblasen, kein Politjargon, kein Technokratendeutsch. Er weiß, wann und, vor allem, wo er sich rarzumachen hat. Er opfert nicht der Sehnsucht des Publikums nach Amüsement, strahlt aber auch nicht jene Bedeutungsschwere aus, die jede Leichtigkeit und Selbstironie erfrieren lässt. Er malträtiert das Publikum nicht mit Erziehungseifer, der seiner Politik den Charakter einer Volksschule gäbe. Er entzieht sich einer Vorwurfskultur und verzichtet auf ritualisierte Schimpfkanonaden und aufgesetzte Empörungen.
In kürzeren Worten: Der »atypische« Politiker hat eine gewisse Distanz zum politischen Betrieb, seinen Umdrehungen und Gepflogenheiten - und wenn er sehr gut ist, auch noch zu sich selbst. Sein Motto könnte lauten: Um nicht auf der Strecke zu bleiben, muss man gelegentlich vom Weg abweichen.
Die Bewunderung und die Verehrung, die Helmut Schmidt sogar noch zunehmend erfährt, gilt ihm natürlich sehr persönlich. Aber darin drückt sich auch eine Sehnsucht der Bürger nach politischen Autoritäten aus, deren Eigenschaften und Tugenden sich am besten unter dem Wort »Staatsmann« zusammenfassen lassen. Mit seiner Leidenschaft für Vernunft, seinem Pragmatismus zu sittlichen Zwecken, seiner Maxime »Salus publica suprema lex« (Das öffentliche Wohl ist das höchste Gesetz) und seiner Kompetenz nicht zuletzt in Fragen der Ökonomie entspricht Helmut Schmidt wie kein Zweiter den heutigen Erwartungen der Menschen an die Politik und die Politiker: Gemeinwohlorientierung in Zeiten zunehmender Gruppeninteressen und ihrer Bedienung, ökonomischer Sachverstand in Zeiten der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Gründung der Republik, Verantwortungsbereitschaft und Tatkraft angesichts massiver Herausforderungen und aufgeschobener Probleme, klare Realitätsdiagnosen und Aufklärung der Zusammenhänge angesichts erheblicher Verunsicherung und Unübersichtlichkeit.
Mit alldem kommt Helmut Schmidt dem von mir skizzierten Bild des »atypischen« Politikers sehr nahe. Neben ihm gibt es weitere Politiker, die sich als atypische Vertreter ihrer Klasse eine hohe Wertschätzung beim Bürger erworben haben. Distanz zum politischen Betrieb der künstlichen Aufgeregtheiten, Rituale und Phrasen sowie eine hohe moralische Integrität werden zum Beispiel auch Altbundespräsident Richard von Weizsäcker zugeschrieben. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die bei vielen Gelegenheiten weiterhin spürbare, wenn auch Teile der SPD befremdende Beliebtheit von Gerhard Schröder - den eine frühere Bundesvorsitzende der Jusos 1997 (!) als »Abrissbirne an der SPD-Programmatik« bezeichnete - und die Faszination von Joschka Fischer, dem letzten Rock n' Roller der Politik mit einem Repertoire über mehrere Oktaven.
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