Unterm Strich
nachlässige Umgang mit der Umwelt oder das Erziehungsversagen von Eltern mit der Abschiebung der Probleme auf Lehrer und öffentliche Einrichtungen sprechen Bände.
Fest steht, dass sich die personellen Auswahl- und Aufstiegsmechanismen der Parteien ändern müssen. Es könnte ratsam sein, mehr parteilose, aber anerkannte Persönlichkeiten unter dem Namen einer Partei kandidieren zu lassen und zu unterstützen. Mitgliederentscheidungen statt Gremienentscheidungen über die Besetzung von Mandaten und Ämtern sollten im digitalen Zeitalter technisch nicht so schwer fallen und praktisch einer größeren Transparenz dienen. Das Muster der Primaries oder Open Primaries in den USA, der sogenannten Vorwahlen, an denen sich Parteimitglieder oder sogar Wahlberechtigte beteiligen können, würde den politischen Wettbewerb beleben und die Nominierung von Spitzenkandidaten viel stärker an deren öffentliche Zustimmungsfähigkeit als an ein parteiinternes Ränkespiel binden.
Im Kern geht es auch hier um eine Öffnung der Parteien. Zum einen um eine Öffnung für neue Organisationsformen und Verfahren, die das »Personalmanagement der Parteien« aus den Hinterzimmern herausholen, wo Rauchen noch erlaubt ist, und auf die Anforderungen einer guten Staatsführung trimmen. Zum anderen um eine Öffnung gegenüber interessierten Persönlichkeiten mit politischen Ambitionen und entsprechenden Begabungen, die ihren Lauf durch die Parteiorganisationen nicht bestreiten können oder wollen. Gegenüber hundertprozentigen Parteigängern nenne ich sie Grenzgänger: Die Partei ist ihnen Mittel zur Gestaltung, aber nicht Zweck; sie sind einer Partei verpflichtet, betrachten das Gemeinwohl aber als das höhere Gut; sie folgen der eigenen Urteilsfähigkeit, ohne deshalb eigensinnig zu sein; sie sehen die Wirklichkeit mit eigenen Augen und nicht durch den Filter eines parteipolitischen Konformismus; die Vertreter und Mitglieder der anderen Parteien sind ihnen keine Feinde, sondern Konkurrenten in einem politischen Wettbewerb, zu denen in dem einen oder anderen Fall auch Brücken unterhalten werden; sie würden einer politischen Notwendigkeit gehorchen, die den Wählern und ihrer Partei nicht gleich einleuchtet, auch wenn sie dies ihr Mandat kosten könnte. Sie glauben, dass die Verteilung von gescheiten Köpfen und Deppen, Persönlichkeiten und Knallchargen über die Parteien der Normalverteilung der Bevölkerung entspricht.
Es werden mehr denn je Personen gebraucht, die sich in den Augen der Bürger vor allem durch Glaubwürdigkeit, Kompetenz und eine offene Sprache auszeichnen. Als Joachim Gauck von der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen Anfang Juni 2010 für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert wurde, zog er in den Meinungsumfragen und Internetblogs innerhalb weniger Tage rasant an dem Kandidaten von CDU/CSU und FDP vorbei. Der liberalsoziale Konservative oder sozial-konservative Liberale, wie Gauck sich selbst in einer Vorstellung bezeichnete, mit einer wechselhaften Biographie und einer politikfernen Sprache kam den Vorstellungen der Bürger sehr viel näher als der ihnen keineswegs unsympathische Christian Wulff als Vertreter der amtierenden politischen Klasse. Aber vielen stach in die Nase, dass dessen Kandidatur zu stark von parteipolitischen Kalkülen bestimmt war und im Interesse von politischen Rochaden lag. Der »Quereinsteiger« hätte bei einer Direktwahl des Bundespräsidenten durch die Bürger gewonnen.
Nun gilt das Amt des Bundespräsidenten wie kein zweites in Deutschland als überparteilich. Viele Menschen dürften deshalb Erwartungen an einen Bewerber hegen, die eher auf einen »Sinnstifter der Nation« mit der Kraft des Wortes gerichtet sind. Sie sind jedenfalls nicht durchweg identisch mit den Erwartungen an die Politiker im Regierungsalltag, denen Tatkraft und Stehvermögen abverlangt wird. Die Sympathie, die Horst Köhler bis zu seinem frappierenden Rücktritt in der Bevölkerung genoss, hatte auch und gerade damit zu tun, dass er vom gängigen Politiker unterschieden wurde.
Dennoch erscheint mir der rasche und überwältigende Zuspruch, den Joachim Gauck als Kandidat in einer Außenseiterposition erfuhr, ein Indiz dafür zu sein, dass die Sehnsucht der Bürger tendenziell auf einen Politikertypus gerichtet ist, der mit dem parteipolitischen Profi, der ihnen durchgängig in den Talkshows und Nachrichten entgegentritt, nur wenig gemein hat. Da mag viel Ungerechtigkeit, Parteienverdrossenheit und
Weitere Kostenlose Bücher