Unterm Strich
Wer Schröder und Fischer nicht für atypische Politiker hält, sollte sich fragen, warum die Bevölkerung inzwischen beiden einen Nimbus der Überparteilichkeit verliehen hat.
Die Erwartungen der Menschen an die Politik sind ambivalent. Sie sind für den Wohlfahrtsstaat und für mehr Eigenverantwortung. Sie wehren sich gegen die Kürzung staatlicher Leistungen und sind für den Abbau der Staatsverschuldung. Sie wollen einen handlungsfähigen Staat, empfinden diesen jedoch als Moloch. Sie wollen Ordnung durch Regelungen und wettern gegen die Bürokratie. Sie schimpfen auf die Gewerkschaften, regen sich über Streiks auf und fordern gleichzeitig mehr Arbeitnehmerrechte. Sie rufen nach mehr Schutz deutscher Arbeitsplätze gegen die Konkurrenz aus Billigländern und sind selbst täglich auf Schnäppchenjagd.
Politik wird sich über diese und weitere Widersprüche nicht beschweren können. Sie gehören zum Inventar offener und pluralistischer Gesellschaften. Diese Widersprüche sind mit politischen Resolutionen oder Regierungsdekreten nicht aufzulösen. Je stärker ein politisches Programm von solchen Ambivalenzen abhebt und sich in einem unwiderstehlichen Bekenntnisdrang der einen oder der anderen Seite verpflichtet fühlt, desto geringer ist seine politische Reichweite. Weil die Distanz zum gegenüberliegenden Pol unüberbrückbar wird. Ein Bekenntnisprogramm reicht vielleicht noch, um eigene Anhänger zu begeistern, aber nicht mehr, um Gestaltungsmehrheiten zu sammeln. Dies gelingt am ehesten derjenigen politischen Kraft, die eine Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft, Markt und Staat, Freiheit und Verpflichtung sowie Gemeinwohl und privatem Gewinnstreben darstellt und herstellt.
Weil die ökonomischen wie gesellschaftlichen Verhältnisse immer komplexer werden und sich die Gesellschaft immer weiter ausdifferenziert, die Lebensverläufe und Interessen der Menschen immer vielfältiger werden, wird sich Politik immer weniger auf ein gesellschaftliches Lager - oder ein »Klasseninteresse« - abstützen und auf einen einzigen Schlüssel zum Verständnis der Welt verlassen können. Erfolgreiche Politik - jedenfalls am Anspruch einer Volkspartei gemessen - wird eine möglichst große Summe von Einzelinteressen und einen möglichst hohen Grad der Komplexität mit einer »dicken Klammer« (Klaus-Peter Schöppner) einfangen müssen. »Entweder-oder-Einstellungen« kollidieren damit, »So-wohl-als-auch-Positionen« werden dem eher gerecht. Die Vielfältigkeit und Unübersichtlichkeit von Wirtschaft und Gesellschaft erfordert eine ambivalente Politik.
Diejenige politische Kraft, die zwischen den Polen ausgleicht und finanzierbare Angebote macht, die also sowohl in die eine als auch in die andere Richtung wirkt und deshalb auch vermitteln kann, wird am ehesten den Status einer Volkspartei verteidigen können. Dazu reicht es eben nicht, sich auf die Interessen von Minderheiten oder Opfern - wie Rentnern mit geringer Altersversorgung, Studenten unter der Last von Studiengebühren, Hartz-IV-Empfängern oder alleinerziehenden Frauen in Armutsverhältnissen - in der Annahme zu konzentrieren, dass ihre Summe schon eine politische Mehrheit ergeben wird, wenn man ihnen mit steigenden sozialpolitischen Transfers dient. Das reicht selbstredend für eine linke Protest- und Oppositionspartei, aber nicht für eine linke Volkspartei. So wie angesichts einer weitgehend entideologisierten Gesellschaft im Zuge der Pluralisierung und des Scheiterns von »Großideen« auch eine Reideologisierung von Parteien nicht mehr verfangen dürfte.
Damit jedem Verdacht einer zynischen Betrachtung der Wind aus den Segeln genommen wird: Die Probleme und Interessen von Minderheiten und Verlierern im Wandel werden sich in einer ausgleichenden und ambivalenten Politik wiederfinden müssen. Das wird nicht zuletzt eine tolerante, aufgeklärte und sozialstaatlich eingestellte Mitte der Gesellschaft sogar einfordern. Aber sie wird gleichzeitig darauf pochen, dass sie selbst über die Hinwendung zu Minderheiten und den schwächeren Teilen der Gesellschaft nicht aus dem politischen Fokus gerät. Sie erwartet, dass die Breite der Leistungsträger und Menschen ohne Merkmale einer Minderheit im politischen Angebot angemessen berücksichtigt wird.
Diese politische Mitte will Fairness. Sie versteht darunter allerdings nicht unbedingt dasselbe wie mancher Sozialpolitiker und auch mancher Arbeitslose, der sich im System staatlicher Alimentation eingerichtet hat.
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