Unterm Strich
Diese Fälle sind - entgegen dem stillschweigenden politischen Konsens, sie wegen Glatteisgefahr nicht beim Namen zu nennen und sie nicht zu verallgemeinern - insofern keine vernachlässigbaren Ausreißer, als sie den Vorstellungen vieler Transferzahler von einem fairen Interessenausgleich nicht entsprechen. Ihr Begriff von Fairness läuft nicht auf eine bedingungslose Solidarität hinaus. Transferempfänger unterliegen vielmehr ebenso Rechten und Pflichten wie die Transferzahler: »Wer nimmt, muss sich Bedingungen unterwerfen, wer gibt, hat das Recht auf Einhaltung dieser Regeln.«
Dieses Fairnessgebot sehen die Menschen noch mehr in einer anderen Blickrichtung verletzt. Sie registrieren, dass der Bankensektor als Verursacher der Finanzkrise, in der auch so manche private Anlage verdampfte, nicht nennenswert an deren Kosten beteiligt ist. Während Finanzinstitute teilweise wieder beträchtliche Gewinne einfahren und ziemlich ungerührt saftige Bonuszahlungen an ihr Management verteilen, sieht das breite Publikum die Kosten der Krise weitgehend zu seinen Lasten als Steuerzahler sozialisiert - und die Politik (bisher) als ohnmächtig oder unfähig, das zu korrigieren. Die Folge ist ein noch nicht auffälliger, aber spürbarer Unmut, der sich plötzlich auch irrational entladen könnte.
Der Verdruss wird noch gesteigert, wenn krisenbedingte Sparprogramme der Politik den Sinn für Ausgewogenheit vermissen lassen und mit Silberblick die Penthouse-Bewohner der Gesellschaft von Beiträgen ausgenommen werden. Wenn der Bankensektor mit öffentlichen Mitteln stabilisiert werden muss, dann ist den Banken dafür ein nennenswerter Eigenbeitrag aufzubrummen. Wenn Sparmaßnahmen unausweichlich sind, dann ist der Opferstock auch und gerade den Gut- und Spitzenverdienern hinzustellen. Sonst verdichtet sich in der kollektiven Wahrnehmung der Eindruck, dass es beim Sparen nicht fair zugeht, dass es sich nicht um ein Sparen nach der Leistungsfähigkeit des Einzelnen handelt, sondern um ein Schröpfen.
Die meisten Menschen sind bereit, Zumutungen zu akzeptieren. Hier irrt eine Politik, die glaubt, mit einem Verzicht auf Anstrengungen und Zumutungen werben zu müssen. Aber die entscheidende Voraussetzung für die Bereitschaft der Bürger, sich unter Zähneknirschen darauf einzulassen, ist die Gewährleistung von Fairness bei der Verteilung der Lasten. So wie es umgekehrt im Aufschwung um eine Teilhabe an der Dividende geht. Das Vertrauen darauf ist erschüttert.
Ich bin davon überzeugt, dass der nächste Bundestagswahlkampf in Zeiten einer nicht vollständig überwundenen Krise mit schwachem Wachstum, aufbrechenden Finanzierungslücken im sozialen Sicherungssystem und einem stark selektierenden Bildungssystem maßgeblich von diesem Begriff der Fairness bestimmt sein wird. Es wird diejenige politische Kraft Zulauf finden, die vertrauenswürdig in Programm und Personen einen fairen Interessenausgleich vertritt - einen Interessenausgleich zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Bildungseliten und Bildungsprekariat, Arbeitslosen und Arbeitsplatzbesitzern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Einheimischen und Zuwanderern. Wenn gleichzeitig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das technologische Know-how des Landes im globalen Wettbewerb zumindest erhalten werden sollen, dann wird sich eine solche politische Kraft sehr breit aufstellen müssen, um die verschiedenen Pole miteinander zu verbinden oder - im Sprachgebrauch von Johannes Rau - miteinander zu versöhnen.
VIII - Freiheit - Solidarität - Gerechtigkeit
In vielen Zeilen dieses Buches, insbesondere in den Abschnitten über Parteiendemokratie, ist - oft auch zwischen den Zeilen - unschwer meine eigene Partei, die SPD, zu entdecken. Ihre selbstreferenziellen Züge, ihre Unbeweglichkeit in einem hochdynamischen Umfeld, die Entfremdung von den Wählern, der Spagat zwischen politischem Anspruch und sperrigen Realitäten - all das trifft zwar mehr oder weniger auf alle Parteien zu. Aber die SPD hat mich über Jahrzehnte politisch getragen - gelegentlich haben wir uns auch wechselseitig ertragen -, und deshalb gerät sie in diesem Schlusskapitel in den Fokus.
Für die damaligen Verhältnisse durchaus ungewöhnlich, hat mich im Frühjahr 1969 während meiner Militärzeit ein Offizier der Bundeswehr für die SPD geworben. Er stand einer Gruppe nahe, die sich »Leutnant 70« nannte. Sie wollte das Konzept des Bürgers in Uniform und die Pflege militärischer Traditionen vorantreiben,
Weitere Kostenlose Bücher