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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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den sechziger Jahren mit seinen antizyklischen Eingriffen einen Riegel vorgeschoben zu haben glaubte, traf insbesondere Arbeitnehmer in den klassischen Industriebranchen, Hochburgen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.
    Die erste Ölpreiskrise lieferte nicht nur den Anlass, die »Grenzen des Wachstums« publizistisch auszumalen, sondern sie führte diese Grenzen mit den autofreien Sonntagen auch plastisch vor Augen. In den nachfolgenden Jahren nahm das Tempo der Staatsverschuldung deutlich zu. »Der Spielraum für Sozialpolitik als präventive Gesellschaftspolitik engte sich im gleichen Maße ein. Das entzog dem sozialdemokratischen Politikmodell ... die Basis.« Der Staat, dem eben noch in einer Planungseuphorie fast omnipotente Regelungsfähigkeiten zugeschrieben worden waren, erschien nicht mehr als Problemloser, sondern als Problemproduzent. Franz Walter beschreibt fesselnd, wie über diesen Prozess nicht nur eine Erosion der »Klassenbasis« der SPD einsetzte, sondern auch ein Wandel, in dessen Verlauf ihrem »geschichtsphilosophischen Optimismus« im Sinne einer kontinuierlichen Steigerung der Sozialquote, des öffentlichen Sektors und der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen der Boden entzogen wurde. Er weist ferner darauf hin, dass sich die »sozialdemokratische Aktivitas« seit den siebziger Jahren aus akademisch gebildeten Aufsteigern rekrutierte, die sich vom traditionellen Wählermilieu der SPD abhoben. Letztlich gehöre auch ich selbst dazu.
    Man muss dem Jahr 1973 nicht unbedingt die historische Dimension unterstellen, dass mit ihm der Untergang der Sozialdemokratie begann. Unbestreitbar ist aber, dass, beginnend in den siebziger Jahren, Trends Fahrt aufnahmen, die sozialdemokratische Reviere schrumpfen ließen und der SPD Kernwählerschaften entführten:
* Die Entstehungsseite des Bruttosozialprodukts hielt bei schwächer werdenden Wachstumsraten nicht mehr Schritt mit der Verteilungsseite;
    * der Ausbau des Sozialstaates als sozialdemokratischer Imperativ stieß damit an Grenzen, der Weg in eine wachsende Staatsverschuldung wurde vorgezeichnet;
    * das soziale Aufstiegsversprechen geriet unter die Räder eines zunehmenden und härteren ökonomischen Wettbewerbs;
    * der sozialdemokratische Ansatz einer politisch-administrativen Steuerung ökonomischer und sozialer Prozesse zerrann augenfällig im mühsamen Krisenmanagement und verlor Glaubwürdigkeit;
    * eine von der Freiburger Schule und keynesianisch geprägte Wirtschaftsgesinnung in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien wurde von einer marktfundamentalistischen (monetaristischen) Wirtschaftsgesinnung abgelöst;
    * traditionelle sozialdemokratische Wählerschaften lösten sich im beschleunigten ökonomisch-sozialen Wandel auf.

    Diese Entwicklungen tauchten auf den Radarschirmen weiter Teile der Sozialdemokratie allenfalls schemenhaft auf, oder sie wurden verdrängt. Die SPD verlor eine »Leitidee« und konnte sie nicht durch eine neue ersetzen.
    Es kam ein Prozess in Gang, der sich als eine strukturell bedingte ständige Verspätung der SPD in der Realität begreifen lässt. Dementsprechend wirkten ihre Selbstbeschreibungen häufig wirklichkeitsfremd. Kam es hart auf hart, hatten sich die Realitäten gefälligst anzupassen. Da diesen aber die Beschlüsse und Programme der SPD ziemlich gleichgültig waren, gab es in den achtziger/neunziger Jahren ausreichend Gelegenheit für die SPD, mit sich selbst und insbesondere mit den Führungspersonen zu hadern, die mit ihrer Verantwortung für praktische Regierungsarbeit in den Niederungen der Realität das »Selbst- und Sendungsbewusstsein« (Franz Walter) störten. Stolz über das Erreichte verbot sich beim Anblick hoch aufgehängter Ideale. Zwischen ihrem Selbstbild und der Wahrnehmung der Bürger geriet die SPD in ein nur selten überwundenes Dilemma: Sie erschien zugleich als Regierungspartei und als Oppositionspartei. Der darüber entstandene personelle Verschleiß war beträchtlich.
    Welche Bedeutung die Erosion traditioneller Wählermilieus im Zuge ökonomischer Umwälzungen und eines ausgeprägten Trends zur Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft hatte, muss nicht wiederholt werden. Von den Folgen, wechselnden und unkalkulierbaren Wahlentscheidungen, ist die SPD nach meiner Einschätzung zwar als erste Volkspartei betroffen. Aber sie ist dabei nur Vorreiter einer Entwicklung, deren Beginn auch bei den beiden Volksparteien der Union zu beobachten ist - was kaum ein Trost sein

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