Unterm Strich
gelangt. Ich bleibe dabei: Die Welt wird nach der Krise nicht mehr so aussehen wie vor der Krise - im Besonderen auch Deutschland nicht.
Zweitens: Von konjunkturellen und globalen Rahmenbedingungen abgesehen, stagniert das sogenannte Potenzialwachstum in Deutschland. Der Trend weist aus, dass die Wachstumsraten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnehmen (von den sechziger Jahren mit durchschnittlich 3,5 Prozent bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit 0,7 Prozent durchschnittlicher Wachstumsrate je Dekade). Nun kann der Vergleich von Wachstumsraten im Zeitablauf und zu anderen Ländern mit unterschiedlicher Kaufkraft sehr irreführend sein. Kurt Biedenkopf geht noch einen Schritt weiter: »Der Fehler liegt darin, dass wir uns mit dem Rechnen in Prozentsätzen einer exponentiellen Entwicklung anvertrauen. Die ist weder stabil noch zukunftsfähig.« Unabhängig von dieser grundsätzlichen Kritik bleibt festzustellen, dass Deutschland mit einer deutlich alternden Gesellschaft, folglich einem abnehmenden Potenzial an aktiven Teilnehmern im produktiven Sektor, mit einer international unterdurchschnittlichen Investitionsquote und über politische Fehlsteuerungen dabei ist, an Flughöhe zu verlieren.
Drittens steigen weltweit in rasantem Tempo neue wirtschaftliche Kraftzentren auf, die darüber auch das globale politische Machtgefüge umgestalten. Der (historisch kurze) Abschnitt der »Unipolarität«, der mit der Implosion des sowjetisch dominierten Machtblocks eingeläutet wurde und die USA auf den Zenit ihres Einflusses beförderte, wechselt von der Realität in die Geschichtsbücher. Die neue multipolare Welt wird auch die Position und Spielräume Europas, mit Deutschland in der Mitte, verändern. Es zeichnet sich nicht nur ab, sondern manifestiert sich längst, dass eine 500 Jahre währende europäisch-westliche Dominanz in politischer, militärischer, ökonomischer, technologischer und kultureller Hinsicht abgelöst wird. Bis in die jüngste Zeit erzielten die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung in der westlichen Hemisphäre plus Japan über 80 Prozent der globalen Einkommen und verbrauchten dementsprechende Ressourcen. Im Trend der nächsten Jahrzehnte werden der wirtschaftliche Wohlstand und die politischen Einflusszonen neu verteilt. »Das Hauptfeld wird uns wieder einfangen«, sagte der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel 2005 in einem Spiegel-Interview Treibende Kraft dieser Entwicklung war und ist die Globalisierung. Die Finanzmarktkrise beschleunigt den Eintritt in ein neues Zeitalter der globalen Wirtschaft und der Geopolitik. Deutschland befindet sich als exportabhängigste Volkswirtschaft in der Premier League mitten in diesem Strudel weltweiter Koordinatenverschiebungen.
Viertens: Unser Wachstumsmodell gerät nicht nur wegen seiner starken Exportlastigkeit unter Druck. Vielmehr beraubt es sich in seiner fortwährenden quantitativen Fixierung und seinem damit verbundenen Ressourcen-, Energie- und Flächenverbrauch seiner eigenen Grundlagen, sprengt sich quasi selbst. 3 Prozent jährliches Wachstum bedeuten in einem Menschenleben die Verzwölffachung der Gütermenge, rechnet Meinhard Miegel vor. Die Kritik, das Bruttosozialprodukt sei als Wachstumskennziffer kein geeigneter Maßstab für den Wohlstand eines Landes, durchzieht die Debatte mindestens seit dem Kongress der IG Metall über die Qualität des Lebens im Jahr 1972 und diversen Veröffentlichungen des Club of Rome, wozu auch der im selben Jahr erschienene Mega-Bestseller Die Grenzen des Wachstums von Dennis Meadows gehörte. So alt und teilweise auch widerlegt diese Kritik auch sein mag: Ein neues Konzept, wie Wachstum oder Wohlstand besser - also weniger unter quantitativen, mehr unter qualitativen Kriterien - bewertet werden kann, steht immer noch aus. Den jüngsten Versuch unternimmt immerhin der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der auf der Grundlage einer Blaupause des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph E. Stiglitz das Sozialprodukt-Konzept relativieren und durch ein qualitativ ausgerichtetes System ergänzen will.
Während diese Schwächen des herkömmlichen Wachstumsmodells also nicht erst jüngsten Entdeckungen zu verdanken sind, hält ein anderer Zweifel Einzug auf der politischen Bühne. Die Frage nämlich, ob herkömmliches Wachstum als unerlässliche Bedingung, als Zaubertrank für gesellschaftliche Stabilität, Verteilungsspielräume und für den - etwas pathetischer ausgedrückt - Fortbestand unserer
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