Unterm Strich
der Dose zu ziehen und die Entwicklung abzubrechen. Gerade die Schwellenländer versprechen sich eine Neuverteilung des weltweiten Wohlstands - und deshalb wird sie kein Parteitagsbeschluss von SPD, CDU oder Bündnis 90/Die Grünen, keine Demonstration und kein parlamentarischer Entschließungsantrag beeindrucken, der ihnen diese Perspektive verdunkelt oder ihnen etwa die Übernahme des deutschen Bundesimmissionsschutzgesetzes empfiehlt.
Zwar vermuten Globalisierungsgegner hinter der Globalisierung einen spätkolonialistischen Plan des Westens zur Aufrechterhaltung seiner wirtschaftlichen und politischen Hegemonie. Tatsächlich aber hat die Globalisierung dazu geführt, dass die Dominanz des Westens verdunstet. Es sind nicht mehr ideologische oder militärische Gegenspieler, sondern es ist paradoxerweise die vom Westen wirtschaftlich und technologisch selbst vorangetriebene Globalisierung, die nun seine »Überlegenheit« und bisherige Dominanz unterspült. Anders, als Globalisierungsgegner es ausmalen, wird die Welt nicht unter einem westlich-kapitalistischen Banner »homogenisiert«, sondern im Gegenteil, sie wird heterogener - und damit auch führungsloser, unübersichtlicher und unsicherer. Antiglobalisierung sei nichts anderes als »unverdauter Marxismus«, spottete der britische Historiker Niall Ferguson schon vor Jahren zu Recht.
Mir scheint es im Übrigen fraglich, ob Kritiker, die anlässlich jeder größeren internationalen Konferenz gegen das Versagen der westlichen Industrieländer demonstrieren oder sich bei Attac mit viel Know-how engagieren, in einem sich neu herauskristallisierenden Wirtschafts- und Machtgefüge ihre Anliegen stärker zur Geltung bringen können und mehr Berücksichtigung finden werden als bisher.
Globalisierung und Digitalisierung und ihre wechselseitige Beeinflussung sind beherrschende Phänomene des beginnenden 21. Jahrhunderts. Beide tragen zu einer ungeheuren Beschleunigung bei - und bereiten deshalb Stress. Je schneller erworbenes Wissen durch neue Erkenntnisse und Fertigkeiten entwertet wird, je stärker ein Statusverfall durch den Verlust des Arbeitsplatzes droht, je weiter die Entwurzelung durch die heute unvermeidliche Mobilität reicht und je fragiler private Beziehungen und Familienverhältnisse werden, desto mehr wächst das Bedürfnis nach Konstanten, nach Vertrautem, Heimat und Sicherheit. Desto größer ist auch die Bereitschaft, sich in Rückzugsräume zu flüchten, sich abzuschotten. Mit dem Bedürfnis, protektionistischen Tendenzen nachzugeben, schließt sich der Kreis - nach dem Motto: Wir lassen die Rollos herunter, um dem unerbittlichen Wettbewerb zu entgehen, der Staat wird es schon richten. Das Verharren in herkömmlichen, vertrauten Strukturen sichert aber keine Zukunft.
Sozial- und kulturgeschichtlich gesehen sind solche Erfahrungen von »Beschleunigung und Erregung, Angst und Schwindelgefühlen«, Neurasthenie und Nervosität (das nennt sich heute Burnout-Syndrom) nichts Neues. Vor hundert Jahren haben ähnlich grundlegende Umwälzungen in allen Bereichen den Aufbruch Europas in die Moderne begleitet, wie Philipp Blom in seinem exzellenten Buch Der taumelnde Kontinent auf packende Weise schildert. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war gekennzeichnet »von Unsicherheit und Erregtheit« und darin »unserer eigenen in vielerlei Hinsicht ähnlich ... Damals wie heute waren tägliche Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, vom Terrorismus, von neuen Formen der Kommunikation und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, dass sie in einer sich beschleunigenden Welt lebten, die ins Unbekannte raste.«
Viele flüchteten vor diesem Modernisierungsschub - seiner kalten Rationalität, dem Bruch mit der bisherigen kulturellen Ästhetik und seinen parlamentarisch-partizipativen Ansprüchen - in irrationale, idealisierte Welten und in ständisch-völkische Bewegungen. Der Umwälzung stellte sich eine Opposition von Ewiggestrigen entgegen, die auf nichts anderes setzten als auf die Angst der Massen, denen sie ein enges, aber Sicherheit gebendes Korsett versprachen. In deren Fluchtburgen fand sich nach dem Ersten Weltkrieg dann das geistige Rüstzeug, mit dem das antidemokratische Denken zum Sprengsatz der Weimarer Republik wurde.
Dieser Ausflug soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich eine historische Ähnlichkeit mit der heutigen Situation
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