Unterm Strich
Herausforderungen des sich längst unabweisbar vollziehenden Wandels werden weder durch Alarmismus noch durch Verschwörungstheorien und schon gar nicht durch Rückkehr in den Naturzustand bewältigt werden. Die Menschen werden sich in einer Welt bewegen müssen, die vielfältiger und bunter wird, in einer Welt, in der es mehrere Wahrheiten gibt. Zivilisation sei der Versuch, immer mehr Komplexität »lebbar zu machen«, heißt es bei Matthias Horx. Dazu muss die Politik den Menschen befähigen. Das muss der Ansatz eines vorsorgenden, vordringlich in Bildung und Qualifizierung investierenden Sozialstaates sein.
»Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer.« Das sind Sätze von Willy Brandt, die er in seiner Abschiedsrede als Präsident der Sozialistischen Internationalen am 15. September 1992 von Hans-Jochen Vogel verlesen ließ. Er fuhr fort: »Darum - besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.« Die Sprengkraft dieser Passage ist in seiner eigenen Partei offenbar bis heute nicht wirklich erfasst worden. »Nur wenig ist von Dauer« - das ist die Einstimmung auf einen permanenten Wandel, dem man sich durch Ignoranz nicht entziehen kann. »Dass jede Zeit eigene Antworten will« - das ist ein Plädoyer, sich nicht an einer reinen Lehre festzukrallen und in der Beharrung keine Lösung zu sehen. Auf der Höhe der Zeit zu sein, »wenn Gutes bewirkt werden soll« - das ruft dazu auf, sich politisch ohne Scheuklappen auf Realitäten und Entwicklungen einzustellen und sie sich nicht durch Denkmuster passend hinzubiegen.
Das Wohlstandsparadigma in Deutschland steht
heute auf tönernen Füßen; die finanziellen Grundlagen des Sozialstaates sind durch die demographische Entwicklung in Frage gestellt; Fliehkräfte sind am Wirken, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden können. Wir sind nicht ausreichend auf die Zukunft vorbereitet. Unser Fundament hat Risse. Die schlechteren Tage der letzten Jahre könnten auf lange Sicht die besseren gewesen sein.
II - Die Verschiebung der ökonomischen Gewichte
Die fetten Jahre sind vorbei. Dabei hat, unbescheiden und verwöhnt, wie wir sind, ein großer Teil der Bevölkerung die Zeit der Prosperität bis 2007/2008 nicht einmal als solche erkannt, sondern eher einer verbreiteten Lieblingsbeschäftigung gefrönt und auf hohem Niveau geklagt. Eine nennenswerte Zahl von Bürgern hat allerdings selbst in diesen Jahren den Gürtel enger schnallen müssen und käme nicht im Traum auf die Idee, sie als Wachstumsphase mit persönlichen Einkommensverbesserungen zu loben. Trotzdem: Im Vergleich zu den Vorbelastungen, Verschiebungen und wirkungsmächtigen Einflussfaktoren, die auf uns zukommen, hatten wir fette Jahre. Wir haben sie nicht gut genug genutzt, und auf weitaus magerere Jahre sind wir weder eingestimmt noch ausreichend vorbereitet. Ich will vier Gründe für diese Einschätzung nennen.
Erstens: Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist schon in einer rein ökonomischen Betrachtung - andere Aspekte werden später noch in den Blick rücken - weit mehr als eine der klassischen Abwärtsbewegungen, die wir aus dem Wirtschaftszyklus der Nachkriegszeit kennen. Diese Krise ist eine Zäsur - nicht nur, aber auch und gerade in ökonomischer Hinsicht. Ihre wirtschaftlichen Folgen sind gewaltiger als die Nachwirkungen der Terroranschläge auf New York und Washington vom 11. September 2001. In einer längeren Linie gibt es sogar eine Beziehung zwischen diesen beiden die Fundamente des Westens erschütternden Einschnitten. Die Attentate haben unter anderem zu einer Politik des billigen Geldes der US-Zentralbank geführt, mit der ein wirtschaftlicher Niedergang verhindert werden sollte. Diese Überschwemmung mit Liquidität war ein Treibsatz der Finanzmarktkrise. Die Terroranschläge haben nicht nur Tausende von Menschenleben vernichtet, Türme der Zivilisation zerstört und der Selbstsicherheit der USA wie auch der unsrigen einen heftigen Stoß versetzt, sondern indirekt und als Spätfolge auch dazu beigetragen, eine Lunte an den Finanzkapitalismus insbesondere der westlichen Welt zu legen.
Zu der Überzeugung, dass wir es in der Folge der Finanzkrise mit einer Zeitenwende oder einer tiefgreifenden Zäsur zu tun haben, bin ich spätestens im September 2008 und beim anschließenden Schnüren der Pakete zur Rettung von Banken und zur Stützung von Wachstum und Beschäftigung
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