Unterm Strich
nahelegen will. Es geht mir vielmehr um Folgendes: Wenn wir uns einerseits den Modernisierungstendenzen des 21. Jahrhunderts nicht verweigern können, weil der Preis zu hoch wäre, aber andererseits die damit verbundenen Verstörungen, Desorientierungen und Ängste nicht ignorieren dürfen, weil das gefährliche gesellschaftliche Verwerfungen nach sich zöge, dann müssen wir einen Puffer einbauen, der Sicherheit gibt. Dieser Puffer ist der Staat, der wichtigste »Produzent« von Sicherheit. Es zeugt von ideologischer Borniertheit, den Staat als unfähig, ineffizient, verfilzt, gefräßig, als Krake mit langen Fangarmen zu bezeichnen - mehr noch: ihn als Übel für die bürgerlichen Freiheiten zu diskreditieren. Ohne handlungsfähigen Staat ist die Freiheit gefährdet, weil sie von manchen mit Zügellosigkeit und Verantwortungslosigkeit gleichgesetzt wird, während die Verlierer im Wandel auf eine Antwort drängen könnten, die protektionistische, antiliberale und strukturkonservative Züge trägt.
Im 21. Jahrhundert ist es der Staat, der Liberalität sichert. Diese Dialektik hat der heute amtierende politische Liberalismus in Deutschland nicht begriffen. Selbst die Profiteure der Globalisierung, »Hardcore-Individualisten« und sonstige Anhänger eines ökonomisch-juvenilen »Neoliberalismus« haben einen Nutzen davon, wenn Politik als demokratisch legitimierter Arm des Staates nicht verdrängt wird, die Bürger nicht auf die Rolle von Konsumenten reduziert, Institutionen nicht geschleift und Arbeitnehmer nicht ihrer Rechte beraubt werden. Ohne einen handlungsfähigen Staat mit einer sicheren Einnahmebasis und intakten Institutionen werden wir die Balance verlieren - wird das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sehr viel ungemütlicher werden. »Setzt sich die institutionelle Entleerung der Gesellschaft fort, dann fehlen die Puffer zwischen den Gruppen«, schreibt der Politologe Franz Walter. »Dann prallen die Konfliktlager ohne Struktur und Filter unmittelbar aufeinander. Dann sind populistische Bewegungen nur sehr schwer aufzuhalten. Dann werden Proteste auch elementarer kommen, weniger domestiziert. Kurz und brutal: Sie werden gewalttätig ausbrechen.«
Wir wollen nicht immer wissen, was wir bereits wissen. Leider ist uns die Politik nur allzu gern dabei behilflich, wenn es darum geht, Wege aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich des Wünschenswerten zu finden. Zugegeben, Politik würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht eine der wichtigsten Quellen unserer Existenz speiste: die Hoffnung.
Im Gegensatz zu vielen politischen Kontrahenten und einigen meiner Freunde bin ich jedoch davon überzeugt, dass Politik vorrangig eine andere Aufgabe hat - nämlich die Menschen im rasanten ökonomischen, technischen und sozialen Wandel wetterfest zu machen. Das klingt - gemessen an dem, wie Politik auch definiert werden kann: als Vision, als Gesellschaftsentwurf, als »Grand design«, als »Traum« - sehr prosaisch, ja fast kalt. Das klingt nach einem sehr bescheidenen politischen Gestaltungsanspruch. Und doch sehe ich hier die Hauptverantwortung der Politik. Es wäre viel gewonnen, wenn uns das gelänge.
Das nach wie vor dominante politische Konzept »Schutz vor dem Wandel« wiegt die Menschen in einer scheinbaren Sicherheit, weil Politik den multiplen Wandel und seine janusköpfigen Begleiterscheinungen nur sehr eingeschränkt gestalten kann. Die »Grammatik des Wandels« (Matthias Horx) entzieht sich weitgehend einer politischen Kontrolle. Es genügt ein Blick auf die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien, die bisher gültige Raum-Zeit-Grenzen aufgelöst haben, auf die Produktivitäts- und Wachstumsschübe, denen die Kapitalflüsse instinktiv folgen, oder auf den Trend der Individualisierung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die sich von Regierungsentscheidungen und Verordnungen nicht wirklich beeindrucken lassen, aber soziale Milieus - und damit auch Wählergruppen! - umkrempeln.
Der politische Gegenentwurf zu einem Konzept »Schutz vor dem Wandel« lautet »Befähigung im Wandel«. Die Menschen sind darauf vorzubereiten, dass mit der modernen Welt Ungleichzeitigkeiten, Ambivalenzen, Komplexität, selbst politische Widersprüche weiter zunehmen werden. Statt »entweder - oder« wird ein »sowohl - als auch« unser Leben bestimmen. Dies beißt sich mit der Sehnsucht nach Entschleunigung, Überschaubarkeit, Rigorismus - mit der Sehnsucht nach der einen großen Wahrheit.
Die
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