Unterm Strich
selbst unter günstigen Annahmen länger als eine Dekade dauern könnte, bis die durchschnittliche Verschuldung in der EU wieder auf ein Niveau sinkt, das mit den Auflagen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von Maastricht vereinbar ist - also 60 Prozent Verschuldung, gemessen an der Wirtschaftsleistung in der Eurozone. 15 der 16 Mitgliedsstaaten der Eurozone (Estland kommt zum 1. Januar 2011 hinzu) und 24 von 27 EU-Staaten befinden sich in einem Defizitverfahren nach dem Maastrichter Stabilitätspakt. Einige weisen so hohe Budgetdefizite und Schuldenstände auf, dass kurz- oder auch nur mittelfristig Stabilisierungen naiv anmuten. Die 27 EU-Staaten nahmen allein im Jahr 2009 etwa 800 Milliarden Euro neue Schulden auf. Ohne Maßnahmen zur Konsolidierung, schätzt die EZB, würden die Staatsschulden in Europa bis zum Jahr 2026 auf 150 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung ansteigen.
Diese extremen Schulden werden Europa um Jahre zurückwerfen. Sie drohen nicht nur private Unternehmensfinanzierungen vom Kapitalmarkt, zumindest in den höheren Bonitätsklassen, zu verdrängen oder zu belasten. Sie legen den europäischen Staaten zudem eine steigende Zinslast wie eine Schlinge um den Hals, die sich umso enger zieht, je mehr sich die Kapitalmarktkonditionen über eine Herabstufung von Länder-Ratings durch Risikoaufschläge oder Zinserhöhungen im Rahmen einer der Geldwertstabilität verpflichteten Geldpolitik verschlechtern. Der Anteil der Vergangenheitsfinanzierung an den Staatsausgaben nimmt immer weiter zu. Dagegen verengt sich der politische Spielraum für Zukunftsinvestitionen.
Dementsprechend artete die Finanz- und Wirtschaftskrise in der dritten Phase in eine Fiskalkrise aus. Ob im Speziellen oder in Kombination: Eine wachsende Arbeitslosigkeit, sinkende Steuereinnahmen, drückende Lasten aus kreditfinanzierten Hilfspaketen und unzugängliche Kapitalmärkte bedrohen inzwischen die Finanzgrundlagen ganzer Nationalstaaten. Das war in der Eurozone das erste Mal hautnah ab Herbst 2009 im Fall von Griechenland zu erleben. Die Zuspitzungen, zu denen es bereits zuvor in Lettland und außerhalb der EU in Island wie auch in der Ukraine gekommen war, sind offenbar dem Kurzzeitgedächtnis zum Opfer gefallen. Die Möglichkeit, dass eine größere Fiskalkrise von Ländern auch die Sozialstaatlichkeit und damit die gesellschaftliche Stabilität gefährden kann, da sich das Risiko politischer Radikalisierung erhöht, ist nachdenklichen Zeitgenossen klar. Selbst Deutschland sollte sich in dieser Hinsicht nicht allzu sehr auf der sicheren Seite wähnen.
Nun setzen sich die Schwächen Europas aus Komponenten zusammen, die sich nicht allein auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurückführen lassen. Sie hat eine beschleunigende Wirkung, aber eine Reihe von Ursachen war schon vor ihrem Ausbruch eingepflanzt.
Es beginnt damit, dass die Währungs- und Wirtschaftsunion, wie sie im Februar 1992 im Maastrichter Vertrag für 1999 beschlossen wurde, nicht zu einer politischen Union fortentwickelt worden ist. Noch schärfer formulieren es die - in der Griechenlandkrise reaktivierten - Eurogegner. Sie fühlen sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass eine Währungsunion, wie sie der Euro repräsentiert, nicht ohne eine politische Union funktionieren kann. In einer solchen Währungsunion darf eben nicht nur die Währungspolitik zentral gesteuert werden, sondern es muss auch die Wirtschafts- und Fiskalpolitik koordiniert werden. Man habe also den zweiten Schritt vor dem ersten getan. Otmar Issing - ehemaliges Mitglied des EZB-Direktoriums und Leiter einer Gruppe, die Bundeskanzlerin Angela Merkel und mich vor den Finanzgipfeln von London und Pittsburgh im Jahr 2009 beriet - soll das Bild geprägt haben, es sei der Karren vor das Pferd gespannt worden.
Der Verkehrung einer richtigen in eine falsche Schrittabfolge kann man nachtrauern. Die Dynamik nach 1992 war nun einmal stärker auf die Währungsunion gerichtet, zumal sie nach der deutschen Vereinigung und dem gestiegenen Gewicht Deutschlands in einer wiedergewonnenen zentraleuropäischen Geographie als der kürzeste Weg erschien, dieses Deutschland einzubinden und zu bändigen. Die Preisgabe der D-Mark im Tausch gegen den (gleichermaßen stabilen) Euro war eine der Konzessionen, die dazu beitrugen, den Weg zur deutschen Vereinigung zu ebnen.
Die Kritik an der falschen Reihenfolge oder versäumten Parallelisierung von Währungs- und politischer Union mag nachvollziehbar sein,
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