Unterm Strich
universale Rolle verloren. Andere dynamische Regionen sind aufgestiegen und haben den Fokus vom europäisch-atlantischen in den pazifischen Raum verlagert.
Diese Selbsterkenntnis und die Mühe, sich darauf einzustellen, stehen uns erst noch bevor. Das muss uns nicht deprimieren. Damit können wir leben, sogar besser als viele andere Teile der Welt. Europa wird darüber ja nicht völlig bedeutungslos, ebenso wenig wie Russland, das seit 1990 einen ähnlichen Wandel mit einer allerdings nagenden Verletzung seines Stolzes als ehemalige Supermacht durchläuft.
Die wirtschaftliche und politische Achsenverschiebung hat sich nicht »einfach eben so« ergeben. Europa hat dazu auch selbst beigetragen, durch Versäumnisse und Stockfehler. Das Drehbuch des inzwischen auf 27 Mitgliedsstaaten angewachsenen Ensembles in der EU, aus dem bei Geburtstagen und Ehrungen gern vorgelesen wird, beschwört zwar die Integration der vielfältigen Darsteller zu einem einheitlichen und harmonisierten Klangkörper, doch tatsächlich hat sich Europa bisher nicht dazu durchringen und darauf einigen können, dieses Ziel entschieden anzusteuern. Nach wie vor ist es keine Einheit in Vielfalt, zwar ein Staatenbund, aber keiner mit einer Stimme, die auf der Weltbühne des 21. Jahrhunderts mit einer neuen Szenerie und neuen Akteuren einer gewichtigen Rolle Ausdruck verleiht. Zweifel sind angebracht, ob es dazu überhaupt - selbst mit Verspätung - in der Lage ist. Diesen Zweifeln liegen einige Jahre eigener teils quälender Erfahrungen in europäischen Gremien und ein nüchterner Blick auf kaum zu leugnende Gegensätze und Defizite zugrunde. Nur mit einem Qualitätssprung in seiner politischen Integration hat Europa eine chancenreiche Zukunft. Kaum ein Land hat daran ein so hohes Interesse wie Deutschland - nicht aus einer romantischen Anwandlung heraus, sondern aus der Sicht unserer Geographie, relativen Größe im globalen Maßstab und wirtschaftlichen Perspektiven. Um neben den Hauptdarstellern USA und China und angesichts einer Reihe von internationalen Konfliktherden, die - zumindest im Nahen und Mittleren Osten - Europa betreffen, eine bedeutende und gefragte Rolle zu spielen, darf sich Europa nicht renationalisieren. Es muss sich diesen Herausforderungen gegenüber entsprechend formieren und dazu interne Spannungsbögen auflösen. Das ist der Teil des Wünschenswerten der Analyse. Die Bestandsaufnahme sieht zurzeit leider anders aus.
Tatsächlich befindet sich die Europäische Union in einer Schwächeperiode. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat schonungslos Schwächen offengelegt, teilweise auch verursacht. Die Finanzmarktkrise mit dem Epizentrum in den USA erfasste weite Teile des europäischen Bankensystems und rückte einige Institute, vornehmlich in Großbritannien, Deutschland und Irland, an den Abgrund. Der Infektion durch innovative Finanzprodukte, deregulierte Märkte und angelsächsische Managementphilosophien hatten die europäischen Banken nichts entgegenzusetzen. Die Abhängigkeit von US-amerikanischen Rating-Agenturen und prozyklisch wirkenden Bilanzierungsregeln, eine schwache grenzüberschreitende Bankenaufsicht und ein unterentwickelter Regulierungsrahmen bilden die europäischen Schwachstellen, die zur Durchschlagskraft der Finanzkrise beitrugen. Das europäische Zentralbankensystem mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihrem Präsidenten Jean-Claude Trichet an der Spitze erwies sich dagegen mit einem sehr respektablen Krisenmanagement als Fels in der Brandung.
In der nächsten Phase der Krise, der wirtschaftlichen Rezession, gerieten die Mitgliedsstaaten der EU unter Druck, kreditfinanzierte Konjunkturprogramme in Milliardenhöhe zur Stabilisierung der Wirtschaft und der Beschäftigung vom Stapel zu lassen. Auf der Ratssitzung der Staats- und Regierungschefs im Dezember 2008 wurden dafür 1,5 Prozent des EU-Bruttosozialprodukts, also rund 200 Milliarden Euro, verabredet, zu denen alle Mitgliedsstaaten beitragen sollten. Diese Stimulanzprogramme addierten sich zusammen mit den Belastungen aus den staatlichen Rettungsschirmen für den Bankensektor zu einer gigantischen Kreditaufnahme, wie sie Europa in den letzten 60 Jahren nicht erlebt hat. Sie war der Krise geschuldet. Politischer Attentismus in dieser Lage wäre sowohl den einzelnen Mitgliedsstaaten als auch der EU als Ganzes weit teurer zu stehen gekommen. Es musste der Sturz von einer Rezession in eine Depression verhindert werden.
Die EZB rechnet damit, dass es
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