Unterm Strich
Bankenrettung zu beteiligen. Am Dienstag stand der größte Versicherungskonzern der Welt, AIG, bei dem 470 der 500 größten US-Unternehmen versichert sind und der Handelsbeziehungen zu fast allen international bedeutenden Banken unterhält, Millimeter vor dem Absturz - und wurde von der US-Regierung in letzter Minute aufgefangen. Lehman Brothers war schon eine Katastrophe gewesen, aber ein Untergang von AIG wäre zum Super-GAU geworden, vergleichbar einer Kernschmelze. Es gab Stimmen, die vom Ende des Kapitalismus sprachen.
Am 10. September 2008 hatte Hank Paulson erklärt, dass für die Rettung von Lehman Brothers - anders als im Fall der Mitte März 2008 erfolgten Übernahme von Bear Stearns durch JPMorgan Chase - keine öffentlichen Gelder eingesetzt würden. Der Markt schätzte diese beinharte Erklärung Paulsons als Verhandlungstaktik ein, zumal erst zwei Tage zuvor die beiden größten US-Hypothekenfinanzierer, Fannie Mae und Freddie Mac, verstaatlicht worden waren. Das war ein Fehler. Bei den Verhandlungen zur Lehman-Rettung am Sonntag, dem 14. September, zeigte sich, dass Hank Paulson es ernst meinte - auch für mich, der ich in einer Telefonkonferenz mit den G7-Finanzministern und -Notenbankgouverneuren zugeschaltet war, kam diese Weigerung unerwartet. Ohne Aussicht auf eine staatliche Garantie zog die britische Barclays Bank ihr Übernahmeangebot zurück.
Am Montag musste Lehman Brothers Konkurs anmelden. Ein Beben erschütterte die weltweiten Finanzmärkte, denn schlagartig wurde allen klar: Wenn eine angesehene, systemrelevante Bank wie Lehman pleitegehen kann, dann kann das auch mit jeder anderen Bank auf der Welt passieren. Damit ging die wichtigste Ressource der Finanzmärkte von einem auf den anderen Tag verloren: Vertrauen. Das kollektive Misstrauen hält uns seither in Atem.
Weder Warnungen von Verhandlungsteilnehmern in New York noch Hinweise der Europäer in der Telefonschaltkonferenz am Sonntag, es werde am nächsten Tag an den Börsen weltweit »ein Blutbad« geben, konnte die US-Administration von ihrem Entschluss abbringen. Auch eine weitere Telefonkonferenz, in der Vertreter der europäischen Aufsichtsbehörden die Amerikaner bedrängten, Lehman Brothers aufgrund ihrer systemischen Rolle für das internationale Finanzsystem nicht in den Konkurs gehen zu lassen, blieb erfolglos.
Die harte Linie der US-Regierung im Fall Lehman Brothers erklärt sich für mich zum einen aus den vorangegangenen Engagements bei Bear Stearns, Fannie Mae und Freddie Mac. Zum anderen glaube ich, dass auch die Präsidentschaftswahl im November 2008 eine Rolle gespielt hat. Im Zuge der Primaries und des angelaufenen Wahlkampfes war den Republikanern die breite Verärgerung, wenn nicht die Wut der Wähler auf die Banker der Wall Street bewusst geworden. Die Wähler waren es leid, für Fehlentscheidungen und Übertreibungen mit ihrem Steuergeld zahlen zu müssen. Mir erscheint die Vermutung nicht abwegig, dass der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain der noch amtierenden US-Regierung unter George W. Bush zu verstehen gab, dass es ihm durchaus willkommen sei, mit der Pleite von Lehman Brothers ein Exempel zu statuieren. Die verheerenden Folgen waren keinem bewusst.
Die US-Administration war zudem offenbar der irrigen Meinung, die Märkte durch frühzeitige entsprechende Kommunikation ausreichend auf den Lehman-Konkurs vorbereitet zu haben. Dies sollte sich als die bislang teuerste wirtschaftspolitische Fehleinschätzung des noch jungen 21. Jahrhunderts erweisen. Aus allen bisherigen Anhörungen ist deutlich geworden, dass niemand ernsthaft damit gerechnet hat, die US-Regierung könnte die viertgrößte Wall-Street-Investmentbank in den Konkurs gehen lassen. Das war einfach undenkbar. Darauf war niemand vorbereitet.
Im Rückblick erweist sich die Lehman-Pleite als ein entscheidender Wendepunkt. Eine Zeitenwende der Finanzmarktkrise ist sie schon deshalb, weil der Konkurs Schluss machte mit der Ideologie, dass freie, deregulierte Märkte am besten funktionieren, wenn sich der Staat möglichst vollständig heraushält. Schlagartig war klar, dass - aufgrund der weltweiten Vernetzung von Lehman Brothers und der Verteilung der Geschädigten über den gesamten Globus - alle Infektionswege weit offen standen und die Finanzmarktkrise von einer amerikanischen zu einer weltweiten Krise werden würde.
Dienstag, der 16. September 2008, war einer der dramatischsten Tage meines Politikerlebens. Um 10:00 Uhr
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