Unterm Strich
musste ich im Deutschen Bundestag die Einbringungsrede zum Entwurf des Haushaltsplans für das Jahr 2009 halten. In der Nacht hatte ich an dem Redeskript gefeilt und mir den Kopf zerbrochen, wie direkt und ungeschminkt ich auf die seit diesem Tag aus den Fugen geratene Welt eingehen sollte. Kritiker haben mir hinterher vorgeworfen, ich hätte die Lage zu kursorisch behandelt und die Wucht der Ereignisse heruntergespielt. Aber kaum ein Wort wird von den Märkten und ihren Akteuren so auf die Goldwaage gelegt und hat so unmittelbare Reaktionen zur Folge wie das eines Finanzministers - und erst recht in einer der größten Finanzkrisen. Solche Erfahrungen waren mir nicht fremd.
Mir schien eine ausgewogene und vorsichtige Darstellung der Lage, die mir möglicherweise den Vorwurf der Verharmlosung einbrachte, ratsamer als eine scharf problematisierende und möglicherweise entflammende Rede, mit der ich das zweischneidige Lob rhetorischer Deutlichkeit geerntet hätte. Tatsächlich enthielt meine Rede einige Passagen, die keinen Zweifel am Ernst der Situation ließen: »Klar ist: Diese Finanzmarktkrise ist weltweit die schwerste seit Jahrzehnten - und sie ist nicht vorbei. Meine Warnungen haben sich diesbezüglich leider bestätigt. Dass die Finanzmarktkrise Auswirkungen auf die Realwirtschaft hat, ist ebenso klar. In der Tat sind Exzesse, Zügellosigkeiten und maßlose Übertreibungen festzustellen, die den Finanzdienstleistungssektor nachhaltig beschädigen können.« Weder hier noch anderswo habe ich behauptet, dass die Finanzkrise auf die USA beschränkt sei. Das ist Kolportage. Ich habe vielmehr gesagt, dass der Ursprung und der Schwerpunkt dieser Krise in den USA lägen. Das war und bleibt richtig.
Die Haushaltsrede war an diesem Tag zweifellos noch die einfachere Übung. Es traf sich, dass ausgerechnet am Tag Lehman plus 1 der schon länger vereinbarte Besuch von Robert Rubin auf dem Terminkalender stand, dem früheren US-Finanzminister unter Bill Clinton und Spitzenmanager bei Citigroup. Diese amerikanische Großbank war ebenfalls in den Sog der Finanzkrise geraten und musste insgesamt mehr als 100 Milliarden US-Dollar Kreditverluste und Abschreibungen verbuchen. Auch Robert Rubin mit all seiner Erfahrung konnte mir den »Fall« Lehman nicht erklären. Die Folgen für die weltweite Finanzarchitektur standen uns jedoch gleichermaßen vor Augen.
Kaum hatte er sich verabschiedet, betraten zwei Zentralbanker, Axel Weber, der Präsident der Bundesbank, und Mario Draghi, der Gouverneur der Italienischen Zentralbank und Leiter des Financial Stability Forum (heute Financial Stability Board), mein Büro. Beide hatte ich in all den Jahren sehr zu schätzen gelernt. Sie bedrängten mich inständig, bei Hank Paulson in Washington zu intervenieren, um 36 Stunden nach Lehman eine weitere Insolvenz mit einem noch weitaus höheren Faktor abzuwenden; in den schwärzesten Farben schilderten sie mir die dann nicht mehr zu kontrollierende Kettenreaktion. Uns war gemeinsam klar, dass eine Insolvenz des riesigen Versicherungskonzerns AIG eine noch weitaus größere Sprengkraft haben würde als die Lehman-Pleite. Ich beriet mich in einem Telefonat mit Christine Lagarde. Wir verabredeten, getrennt an Hank Paulson heranzutreten, um unseren Befürchtungen mehr Nachdruck zu verleihen.
Ich erreichte ihn am späten Nachmittag deutscher Zeit - also vor der Mittagszeit in Washington. In der Zeitnot und dem für ihn noch weit größeren Stress redeten wir nicht lange um den heißen Brei herum. Ihm wie mir waren die von der Wall Street ausgehenden Schockwellen und die Unsicherheit bekannt, die sich seit der Öffnung der asiatischen Aktien- und Devisenmärkte an diesem Dienstag über die Welt ausbreiteten. Die weltweit führenden Notenbanken pumpten aus Sorge vor einer Panik an den Finanzmärkten an diesem Tag mehr als 100 Milliarden Euro zusätzliches Geld in das Finanzsystem, davon allein die EZB 70 Milliarden Euro.
Hank Paulson konnte mir in diesem Telefonat noch nicht definitiv zusagen, dass eine Rettung der schwer angeschlagenen AIG gelingen würde. Aber ich verstand ihn richtig, dass er alles in seiner Macht Stehende tun werde, um zu einer Rettung beizutragen, und dass die Chancen dafür nicht ungenutzt blieben. In der Tat verdichteten sich in den nächsten Stunden die Anzeichen für eine Rettung der AIG. Im weiteren Verlauf dieses Dienstags entschied der Vorstand der Fed, dem Versicherungskonzern einen Kredit von bis zu 85 Milliarden
Weitere Kostenlose Bücher