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Unternehmen CORE

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Titel: Unternehmen CORE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Preuss
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bleiben. Atomstrukturen waren das wichtigste Feld, seit mehr als einem Jahrzehnt blühte es. Doch der alte Professor fand keinen Geschmack an Theorien, vor allem der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie und ihren Abkömmlingen. Er bat Cyrus, Artikel über relativistische Atomtheorien und andere Themen der »neuen« Physik, die er selbst nicht lesen wollte, für ihn zusammenzufassen.
    Nicht aus Neugierde, sondern weil er einen neuen Vorrat an Karteikarten oder einen Stift oder eine versiegelte Schachtel kubanischer Zigarren brauchte, die zu holen der Professor ihn gebeten hatte, lernte Cyrus bald den Inhalt der Kabinettschränke und Schubladen Ellyards kennen.
    Es dauerte nicht lange, bis er auf die Prüfungsfragen stieß.
    Abgegriffene, maschinengeschriebene Durchschläge, die zusammengeheftet in einem der braunen Aktenordner verstaut waren. ›Einführungskurs Zwischenprüfung, ’38, ’40‹ war ein Blatt mit Ellyards krakeliger Handschrift überschrieben. Andere waren mit ›Junior Abschlußprüfung, ’31, ’36‹, ›Senior Abschlußprüfung, ’33, ’38‹ markiert, und so fort. Es gab Fragen, die begannen mit ›Die kristalline Struktur von Eisen bei Raumtemperatur ist kubisch …‹ oder ›Beweisen Sie, daß es auf einem Druck/Volumen-Diagramm einer gegebenen festen Masse keine zwei adiabatischen Kurven gibt, die sich überschneiden …‹ oder ›Natriumatome, die mit einer Temperatur von 800 Grad Celsius auf eine Oberfläche treffen, sind zu 99 Prozent ionisiert …‹
    Cyrus durchblätterte die Akte und dachte an praktische Dinge; daß jedes Jahr jeder Test neu getippt und gedruckt werden mußte, daß anscheinend ganze Listen alle paar Jahre erneut vorgelegt wurden. Möglichkeiten, diese Methoden zu verbessern, kamen ihm beinahe augenblicklich. Statt einzelner Tests wäre es besser, für jede Kategorie eine Fragenliste zu erstellen, die nach dem Schwierigkeitsgrad geordnet wäre; sie könnte schnell auf den neuesten Stand gebracht, die Fragen könnten für jeden Test neu zusammengestellt werden.
    In den nächsten Wochen, wann immer er einige freie Minuten im Büro hatte, begann er, eine solche Liste anzulegen. Wenn er damit fertig wäre, hätte er sie seinem Professor präsentiert; ihre Vorteile lagen auf der Hand.
     
    Es kam der Frühling, und eilig neigte sich die Sonne dem Sommer entgegen. In einer Juninacht ging Cyrus im dämmrigen Licht eines Himmels, der die Farbe ausgebrannten Stahls hatte, nach Hause. Es war im Jahr 1941, der Krieg auf der anderen Seite der Weltkugel wurde schlimmer, aber es war nicht Amerikas Krieg. Die Luft in jener Nacht war warm und duftete, genug, um einen Optimisten zu bestärken und einen Pessimisten zweifeln zu lassen. Hinter seiner Maske beständiger Düsternis spürte Cyrus den Anflug von Fröhlichkeit. Ein Chevrolet Cabrio, voll mit jungen Männern und Frauen, fuhr vorbei, das Verdeck war heruntergelassen, jemand drückte auf die Hupe, die großen Frontscheinwerfer leuchteten. Er winkte schwach zurück, obwohl sie wahrscheinlich jemand anderen angehupt hatten.
    Er ging die Stufen hoch. Durch die Vorhänge sah er im Wohnzimmer Licht, das übrige Haus lag in Dunkelheit. Als er den Schlüssel aus seiner Hosentasche holte, fragte er sich, ob seine Mutter nicht sparsamer war, als es wirklich notwendig wäre.
    Drinnen fiel er beinahe über das Gepäck, das im Flur stand.
    »Mutter?«
    »Ich bin hier, Junge«, sagte sie. Sie saß im Lehnstuhl, die Beine eng zusammen, die Hände hielt sie im Schoß. Das Licht war blaß und rosa, es kam von der Stehlampe und ihrem tulpenförmigen Glasschirm. In dem schwarzen Wollkleid, das er niemals zuvor an ihr gesehen hatte, war sie beinahe nicht zu sehen; in ihren Händen hatte sie Lederhandschuhe – sie war reisefertig. »Wir müssen miteinander reden.«
    »Was tust du?«
    »Ein Taxi wird bald kommen, das mich zum Zug bringt.«
    »Was ist los?« Er spürte Panik in sich aufsteigen.
    »Nichts ist los.«
    »Aber wohin gehst du?« Er wollte sie nicht das fragen, was er nicht hören wollte, daß sie krank war, daß sie fortgehen mußte, weil sie in Nevada nicht die medizinische Behandlung erhalten konnte, die sie brauchte.
    Ihre Stimme wurde hoch und dünn. »Cyrus, ich habe diesen Ort hier immer gehaßt. Dieses schäbige Haus, diese schäbige Stadt. Diese Wüste. Ich war gezwungen, hier zu leben; nach unserem Unglück war diese Stelle hier als Chemielehrer die einzige Arbeit, die dein Vater bekommen konnte. Dann, die vergangenen

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