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Unternehmen CORE

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Titel: Unternehmen CORE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Preuss
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und überflog das ausgeliehene Exemplar von Paulings Formen der chemischen Bindung.
    Cyrus war nicht der Typ für eine Studentenverbindung, Gamma Alpha jedoch war eine ungewöhnliche Verbindung – fünfzehn Männer lebten in dem dreistöckigen Haus zusammengepfercht, die meisten davon älter als Cyrus, alle teilten sich ein einziges Badezimmer und einen großen barackenähnlichen Schlafsaal. Alles Studenten der Naturwissenschaften ohne große gesellschaftliche Ansprüche; obwohl es von Vorteil war, wenn man Bridge spielen oder auf dem Piano im Wohnzimmer mehr oder weniger melodisch herumhämmern konnte. Cyrus konnte weder Bridge noch Klavier spielen, er tat sich schwer, mit anderen auszukommen, aber er konnte mit der Hälfte der Brüder über Physik reden – die anderen waren Biologen –, und er konnte mithelfen, die Miete zu bezahlen.
    Die Eingangstür schlug auf. »Los!« Es war Arnie, in einen Mantel und einen langen Schal gehüllt, den er in Dänemark gekauft hatte. »Seaborg verläßt die Stadt, aber er wird eine halbe Stunde vor der Abreise am Bahnhof sein. Er wird dich dort treffen.«
    Sie fuhren mit einem Taxi zum Bahnhof; Arnie zahlte.
    Glenn Seaborg stellte sich als kalifornischer Schwede heraus, mit schwarzem, nach hinten gestrichenem Haar und einem dümmlich wirkenden Holzfällergesicht. Ein so hagerer Mann, daß sein Trenchcoat und doppelreihiger Anzug an ihm herunterhingen wie Segel bei Flaute. Er war kaum dreißig Jahre alt, und jeder sagte, daß er auf dem Weg zum Nobelpreis war.
    Einige warteten bereits, um mit ihm zu reden; aus einer Ecke des weiten hallenden Warteraums im Bahnhof hatte er ein Büro gemacht. Cyrus versuchte wahrzunehmen, was vor sich ging, aber alle flüsterten nur. Die große Uhr an der Wand ließ die Zeit in minutengroßen Stücken vertickern. Cyrus wollte bereits aufgeben; niemals würde Seaborg zu ihm durchdringen.
    Er schaffte es, als noch fünf Minuten blieben. Seaborg nutzte sie, um mit leiser Stimme eine kurze Erklärung zu geben und viele Fragen zu stellen; die meisten handelten von Nuklearchemie. Dann fragte Seaborg: »Wären Sie bereit, Ihre Karriere eine Zeit lang zurückzustellen – vielleicht sogar Ihren Abschluß um ein bis zwei Jahre aufzuschieben –, wenn Sie wüßten, daß Ihre wissenschaftliche Arbeit ein wichtiger Beitrag zur Verteidigung des Landes darstellt?«
    1942 wurde Energiegewinnung aus Atomkernen allgemein als Science Fiction angesehen, Cyrus allerdings hatte genügend über die neue Physik gelesen, um es besser zu wissen – und erkennen zu können, worauf Seaborg hinaus wollte. »Ja«, sagte er. Lieber Amerika als die Nazis.
    Seaborg sah ihm in die Augen. »Die Regierung möchte wahrscheinlich ihre Akten einsehen, Mr. Hudder, soweit es jedoch mich betrifft, sind Sie angestellt.«
    Die Regierung stimmte zu; so lernte Cyrus, »unsichtbare Materie mit unsichtbaren Waagen« zu messen, wie Seaborg es ausgedrückt hatte. Aber auch Cyrus’ muskulöse Statur war gefragt, denn Teil seiner Arbeit war es, mit Bleiziegeln und noch schwereren Kisten mit Urannitrat-Hexahydrat umzugehen. Er war dabei, als diesen Sommer – Donnerstag, den 20. August 1942 – ein Element seine erste kaum sichtbare Erscheinung – als rosafarbener Niederschlag in einer winzigen Glasphiole – feierte. Es war das erste Mal, wie Seaborg in seinem Tagebuch notierte, daß genügend Plutonium in einer solch großen Menge gesammelt wurde, daß es »vom Auge eines Menschen wahrgenommen werden konnte.«
     
    Wäre er in der Forschungshierarchie etwas höher gestanden, hätte Cyrus den gesamten Krieg über in Chicago bleiben können. Da es ihm jedoch an Alter mangelte, und wegen der ungewöhnlichen Eigenschaften eines anderen Elements, das als essentiell für den Krieg galt, befand sich Cyrus bereits nach wenigen Monaten in einem Abteil des Santa Fé Super Chief, der in westliche Richtung nach New Mexico ratterte. Er wagte es kaum, den Speisewagen des Zuges zu betreten, ohne die schwere Aktentasche mitzunehmen, die, wenngleich nur in seiner Einbildung, mit Handschellen an seinen Handgelenken befestigt war.
    Polonium – benannt nach der Heimat seiner Entdeckerin, Marie Sklodowska Curie – war ein natürliches Element, das so gut wie nie in der Natur vorkam; so ungeduldig war es, zu etwas anderem zu zerfallen. Das silbergraue Metall strahlte in seiner reinen Form so viele Alpha-Partikel ab, daß sich die Luft blau färbte, und es besaß die eigenwillige Gewohnheit, ohne fremdes Zutun aus

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