Unternehmen Wahnsinn
offenen Selbstwerdungsskala bleibt immer ein Delta. Gegenüber einer prinzipiell immer begrenzten Notwendigkeit kann es Gelingen geben – gegenüber einer prinzipiell unendlichen Möglichkeit bleibt immer ein unerreichbarer Rest offen. Wenn die Notwendigkeit lautet: Verdiene so viel Geld, dass du deine Miete bezahlen und dein Kind ernähren kannst, dann mag das möglicherweise schwierig sein, aber dieses Vorhaben kann prinzipiell gelingen – und die entsprechende Bestätigung und Beruhigung tritt ein.
Wenn aber die Möglichkeit heißt: Werde reich, glücklich, geliebt, authentisch, tief zufrieden und ganz DU selbst – dann droht unweigerlich das Versagen, die Mangelhaftigkeit. Etwas fehlt immer. Und der aufwändige Versuch, noch besser, noch schneller zu sein, noch mehr zu leisten, hält nur ein Ergebnis mit Sicherheit bereit: Es hätte noch besser sein können. Das ist der gnadenlose Hintersinn des Diktums vom lebenslangen Lernen. Wenn das Raunen der Verheißungspropheten verklingt, hört man den Subtext ganz klar und deutlich: Du bist nie gut genug. Und es ist deine Schuld.
Enke: einer von uns
Der Depressive ist – ganz entgegen den selbstoptimistischen Appellen – erschöpft, handlungs- und entscheidungsschwach. Das darf nicht sein. Er kann noch nicht einmal gegen eine autoritäre Instanz kämpfen, sondern ist mit sich ganz allein. Zutiefst beschämend, »es« nicht zu schaffen, obwohl und weil »es« doch ganz allein an ihm liegt. Hier beginnt dann die Suche nach Reparatur – und die Selbstoptimierungsbranche hat viel anzubieten. Neben den erwähnten Beratungsdienstleistungen auch jede Menge an Antidepressiva und Aufputschmitteln. Deren zunehmende Beliebtheit ebenso wie den Anstieg von Suchtkrankheiten schildert Ehrenberg ebenfalls eindrucksvoll. Es gilt: Die verträglichere Alltagsmischung aus starken und schwachen Anteilen, aus gesunden und kranken Tagen ist nicht rekordtauglich. Entweder du bist fit und dabei, oder es haut dich raus. Heilung, hat Siegmund Freud einmal gesagt, sei häufig nur ein »Übereinkommen zur gegenseitigen Duldung zwischen Gesundem und Krankem im Patienten«. Aber diese Duldung ist im Zeitalter des Optimismus und der Optimierung gesellschaftlich nicht mehr opportun. In einem Business, das seine Mitglieder in Loser und Winner einteilt, gibt es nur ein entweder – oder.
Daher versucht der Unternehmensmensch Schwächegefühle oder konkrete Krankheitsanzeichen zu verdrängen, vor sich und den anderen. Aus einem Bandscheibenvorfall wird im kollegialen Gespräch ein eingeklemmter Ischiasnerv, aus dem Herpes eine Obstsäureallergie, die Lähmungserscheinung nach einem Schlaganfall wird zum Sportunfall umgedichtet. Wenn das Verharmlosungsgebäude bröckelt und kippt, folgt oft der totale Zusammenbruch unter der Last. Burn-out lautet dann das vernichtende Urteil – und das Erschrecken der Umgebung macht die Situation sowohl peinlicher als auch hoffnungsloser. Nichts geht mehr. Nie mehr (glaubt man). Ein Makel bleibt.
Die überdimensionale Betroffenheit, die der Suizid von Robert Enke in allen Teilen der Gesellschaft ausgelöst hat, wirft ein Schlaglicht auf dieses Thema, auf seine Relevanz wie seine Unterbelichtung in der gegenwärtigen Arbeitswelt: Eine Spitzenkraft, die unter Depressionen litt und dies nicht überein brachte mit ihrer Karriere. In Enke waren einen Moment lang die Pole menschlichen Lebens deutlich sichtbar, wenn auch unversöhnt: Der Anspruch und die Angst, die Leistung und die Grenze, der Sieg und die Niederlage.
19 Alain Ehrenberg : Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart . Suhrkamp 2008.
20 A.a.O., S. 15.
Diagnose 3: Keine Krise der Führung, sondern eine der Zugehörigkeit
Untersucht wird u.a.: die irreale Sehnsucht nach Führung; wie viele Follower-Typen es gibt; warum sich Führungsverhalten nur aus Zugehörigkeit entwickeln kann.
Eine gängige Missstands-Diagnose lautet: Die Situation in und um Organisationen ist deshalb so besorgniserregend, weil nicht mehr gut geführt wird. Was aber, wenn man davon ausgeht, dass es kein klares, abgegrenztes »Wir« mehr gibt, das zu führen ist; wenn wechselnde Zugehörigkeiten und flüchtige Konstellationen gar keine Führung mehr erlauben. Wenn es also gar keine Krise der Führung gibt, sondern eine der Gefolgschaft oder, zugespitzt: eine Krise der Zugehörigkeit. Dann ist auch nicht mehr nach den idealen Führungskräften zu suchen, sondern dann geht es vorrangig um die Neubewertung
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