Unternehmen Wahnsinn
darauf angewiesen. Niemals kann eine Person als solche diese Bindekraft sein, also der Grund, warum ich als Individuum irgendwo dabei bin. Vielmehr müssen die Fragen lauten: Was ist mir so wichtig, dass ich Widrigkeiten – wie zum Beispiel mittelmäßiges Führungspersonal – aushalte? Welches Dritte, Übergeordnete verbindet mich mit diesem? Was leistet die mittelmäßige oder schnoddrige oder arrogante Führungskraft für dieses Dritte?
Statt WER führt gut? könnte man weiter fragen: WEN gilt es zu führen? WAS gilt es auszuführen? Die Diskussion um Führungskompetenzen übertönt und verhindert aber die tiefer gehende Diskussion um unsere grundlegenden Identifikationen. Welche Aktiven, Engagierten, sogar »Diehards« verschreiben sich warum einem bestimmten Zweck? Auf welcher Ebene betrachten wir uns als zusammengehörig? Und zwar für länger als einen Tag.
Mit wem setze ich mich gleich?
Zugehörigkeiten werden nicht mehr gepflegt. Vielmehr wird die Absatzbewegung belohnt und gefordert. Individuell geht es vorrangig um die Suche nach dem eigenen USP, um Strategien des Self Branding, um charakterliche Alleinstellungsmerkmale, ums Anders-sein-als-die-Masse. Also tendenziell um das Gegenteil von dem, was »sich identifizieren« bedeutet. Nämlich: sich einfühlen, sich gleichsetzen (von lat. idem: »derselbe«, facere: »machen«), sich hinter etwas stellen, sich hineindenken, Parallelen ziehen … Es ist, wie der Futurologe Karl Mannheim schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meinte: »Je stärker die Menschen individualisiert sind, desto schwieriger wird es, eine Identifikation zu erreichen.« 26
Auch kollektiv und organisational betrachtet, ist das geschlossene System mit seiner starken Bindekraft nicht mehr erwünscht bzw. an vielen Stellen auch nicht mehr brauchbar: Es geht in den Unternehmen um »open source«, offene System-Grenzen, flexible Verknüpfungen unterschiedlicher Art, Matrixstrukturen, variable Schnittstellen. Bereichsübergreifendes Denken und Handeln ist gefordert, um innerhalb der Marktdynamik handlungsfähig zu sein.
Es scheint tatsächlich, dass Notwendigkeiten sich besser dazu eignen, Führung zu generieren, als die Vielfalt der Optionen. Die im Herbst 2010 über zwei Monate eingeschlossenen Bergleute in Chile bildeten ein solch not-wendiges System. Eine geschlossenere Gemeinschaft als die der Kumpel dort lässt sich kaum denken. Eine Notgemeinschaft. Ausweichen unmöglich. Hier konnte sich ein klassischer Leader (der Schichtführer Luis Urzua) etablieren, dem klassisch gefolgt wurde, weil er für die Gruppe Hilfreiches leisten konnte. Weder konnte sich der Anführer eine neue Gefolgschaft aussuchen, noch konnten die Eingeschlossenen sich absetzen, wenn ihnen etwas nicht passte. Die Chilekumpel machen überdeutlich, dass Führung eine Funktion für eine konkrete Gruppe hat – und kein Wunschkonzert ist nach dem Motto: Wer behandelt mich am besten? Wer unterhält mich am spektakulärsten?
Wollen wir deswegen zu Eingeschlossenen werden? Wohl kaum. Wir leben nun einmal mit Optionen und offenen, mäandernden Systemen. Und wir wechseln ständig unsere Konfigurationen, rennen rein und raus, weil irgendetwas oder irgendwer nicht passt, lassen uns Hintertüren offen und experimentieren mit Gelegenheiten.
Wo aber keine definierte Gruppe mit einem definierten Ziel existiert, sondern nur Netzwerkpunkte, moving targets und flüchtige Konstellationen – da kann »Führung« nur als Jonglieren mit Optionen funktionieren. Wobei erschwerend hinzukommt, dass der Führende gleichzeitig einer der Bälle ist.
Die Frage »Wo sind denn die richtigen Führungsleute?« verdeckt deshalb die anderen, wesentlicheren Fragen, und zwar auf organisationaler wie individueller Ebene. Die Organisationsfragen lauten: Wie können in einem prinzipiell nicht steuerbaren Kontext mit seinen heterogenen Interessenfeldern und wechselnden Konfigurationen Wirkungen, Entscheidungen und Ergebnisse hervorgebracht werden? Welche Öffnungen brauchen Systeme, welche Schließungen brauchen sie aber auch? Und welche Verbindlichkeiten? Verbindlich kommt von Verbindung.
Individuell ist – auch im Sinne von Kellermann und ihren Gefolgschaftskategorien – u.a. zu fragen: Wovon bin ich isoliert? Was beobachte ich nur – und mit welchem Interesse? Wo engagiere ich mich? Mit wem setze ich mich gleich? Mit wem verbinde ich mich, weil ich mich ihm verbunden fühle? Welchem Druck halte ich stand? Welchen erzeuge ich? Welches
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