Unternehmen Wahnsinn
und umfasst den ganzen Bedeutungsraum von »durchforschen«, »gründlich kennenlernen« bis zu »unterscheiden« und »entscheiden«. Eine Diagnose ist der Versuch, Symptome in ihrem Zustandekommen zu verstehen und daraus die richtigen, also heilsamen Schlüsse zu ziehen. Das bedeutet aber eben auch: Aus Fehl- oder Halbdiagnosen werden unheilvolle Schlüsse gezogen. Bestenfalls nützen die verordneten Eingriffe oder Rezepturen nichts, schlimmstenfalls schaden sie und vergrößern das Leiden.
Es werden nun einige der gängigen Diagnosen zum Zustand unserer modernen Arbeits- und Unternehmenswelt einer kritischen Prüfung unterzogen, zum Beispiel: Beschleunigung, Komplexität, Globalisierung, Veränderungsdruck, Führungsversagen, Gier, Vereinzelung. Diese mittlerweile inflationär kolportierten Erklärungen dienen als Begründung für kühne organisational-chirurgische Eingriffe und für einen Cocktail an Rezepturen, der meist brav vom Gros der Unternehmensangehörigen geschluckt wird. Tritt keine Besserung ein, was bei Fehlindikationen nicht verwundert, wird einfach die Dosis erhöht. In der Hoffnung auf Schmerzlinderung oder manchmal auch nur aus Mangel an Alternativen werden die verordneten Zumutungen akzeptiert – gutgläubig, mit wachsender Wut oder fatalistisch. Inklusive der zum Teil verheerenden Nebenwirkungen.
Die folgende Überprüfung klassischer Diagnosen und Rezepte präsentiert eine Zweitmeinung mit anderen Erklärungsmöglichkeiten. Diese sind nicht immer schon mit einem passenden Rezept ausgestattet. Aber es erhöht die Heilungschancen bereits beträchtlich, wenn Lücken und blinde Flecke einer fehlerhaften Diagnose sichtbar werden.
Diagnose 2: Selbstoptimismus bis zur Selbsterschöpfung
Untersucht wird u.a.: die Anything-goes-Hybris; was Überanstrengung mit Freiheit zu tun hat; und warum uns Robert Enke berührt.
Inmitten der beschriebenen Symptome und Paradoxien der heutigen Unternehmenswelten und ihrer Knirschgeräusche ertönt hell und klar das Mantra der zeitgenössischen Arbeits- und Lebenshaltung: »Du schaffst es!« Die Botschaft an den erfolgsorientierten, durchsetzungsstarken Lebensunternehmer und die multitaskingfähige stresssouveräne Networkerin ist ermutigend: keine Bange. Du kannst es. Und du kannst es noch besser. Ist alles eine Frage des Selbstbewusstseins. Löse dich von hinderlichen Gedanken, setze dir attraktive Ziele, überwinde die Angst und ergreife dein Glück. Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen und Lösungen. Wenn du es nur richtig anstellst, wenn du lernbereit, flexi-
bel und proaktiv deine Chancen ergreifst, dann ist für dich alles möglich.
Dieses Selbstsuggestions-Credo passt scheinbar zu jeder beruflichen, persönlichen oder zwischenmenschlichen Fragestellung oder Ambition. Ob es um Kompetenzen, Kreativität oder Konfliktbewältigung geht, um Liebe oder Leid: Das Selbstoptimierungsversprechen ist ein Massen-Rezept geworden. An sich zu glauben, sich permanent zu verbessern und sich die nötige Hilfe individuell zu organisieren, gehört zum Selbstverständnis aller, die auf die Gewinnerstraße gelangen oder sich auf ihr halten wollen. Und es gilt als die beste Prophylaxe, um nicht unter die Räder zu kommen. Kein Wunder, dass sich um die vielfältigen Think-positive-Spielarten herum eine korpulente Glücksindustrie gebildet hat. Wer will nicht gern reich, berühmt, glücklich oder forever young sein?
Etwas weniger schillernd, aber ähnlich apodiktisch tönt es aus den Personalentwicklungsabteilungen der Firmen: »Lebenslanges Lernen« heißt die korrespondierende Parole im beruflichen Kontext. Sie gilt als seligmachende Grundhaltung des arbeitenden Menschen schlechthin.
Was so viel Resonanz erhält, weist entweder auf eine große
Not hin oder auf eine große Verheißung. Oder auf beides. Wenn die Selbstverbesserung also das ultimative Rezept ist – welche
Diagnosen, welche Erklärungen stecken hinter dieser Verschreibung?
Hilf dir selbst, sonst hilft keiner
Seit geraumer Zeit ist zu beobachten, dass sich der »Wettbewerb des Marktes« immer intensiver und umfassender auch ins Organisationsinnere abbildet. Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Ressourcen macht aus Teamkollegen Rivalen. Es geht nicht mehr nur um den Wettbewerb für die beste Lösungsidee, sondern die Konkurrenz greift von der Sache immer mehr auf die Personen selbst über. Kosten-Nutzen-Erwägungen durchziehen die kollegialen Beziehungen. Nicht selten heißt die Konstellation: Er oder
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