Unterwegs im Namen des Herrn
herrscht in Ewigkeit. AMEN
PATER SLAVKOS LETZTES GEBET IM RADIO MARIA VON MEDJUGORJE
Ich betrachte noch eine Weile das abgearbeitete Greisengesicht. Optisch erinnert mich Pater Slavko an denReligionslehrer meiner Schule, der mich gar nie unterrichtet hatte, aber meinen Mitschülern riet, nach dem Sport in der Umkleidekabine meine Armbeugen unauffällig auf Einstichstellen zu kontrollieren, weil offenbar jemand, der seine Zeit mit Büchern verbrachte, in seiner Vorstellung nur drogensüchtig sein konnte. Ich stecke den Kalender wieder weg und schreibe ein paar SMS .
Meine Halsschmerzen lassen ein wenig nach, und es entwickelt sich mit Ingo ein substantielles Gespräch über Männerfreundschaften. Ich freue mich, denn ich habe in letzter Zeit das Gefühl, mir würden meine männlichen Freunde abhandenkommen. Entweder haben sie keine Zeit, oder ich habe keine Zeit. Das ist bei den Frauen, mit denen ich befreundet bin, anders. Entweder arbeiten die weniger, oder sie haben ein besseres Zeitmanagement. Jedenfalls sitze ich immer öfter mit Frauen zusammen und rede über dies und das, während meine Männerfreunde nur alle paar Wochen aus ihren Löchern kriechen.
Mit Frauen zu reden ist natürlich genauso toll, doch ich würde mir etwas mehr Ausgewogenheit wünschen. Und daher freue ich mich über die Unterhaltungen, die Ingo und ich hier führen. Schon deshalb, weil ich weiß, wie schwierig es ist, neue Freundschaften zu entwickeln.
Angeblich findet man jenseits der dreißig ja keine besten Freunde mehr. Kann wirklich sein. Von mir aus müssen es aber gar nicht gleich die besten Freunde sein, ich freue mich schon über neue gute Freunde. Wir haben eben zu wenig Zeit, um uns auf neue Menschen einzulassen, damit aus Begegnungen Freundschaften werden. Ich gebe mir mitunter große Mühe, muss aber gestehen, dass ich schnell wieder aufgebe, wenn ich keine entsprechende Reaktionbekomme. Bei Ingo ist das nicht der Fall, das freut mich. Auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass er mit mir restlos zurande kommt, dazu höre ich noch zu oft von ihm, ich sei geisteskrank. Denn das bin ich sicher nicht, ich weiche nur dem Hass und dem Wahnsinn und all der dunklen Energie der Leute aus, aufs entschiedenste und mit meinen Methoden.
Wieso habe ich eigentlich ausgerechnet Ingo gefragt, mit mir hierherzufahren? Erstens, weil ich ihn mag. Ich mag seinen Humor, ich mag seine Kraft, ich mag seine Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit. Zweitens, weil er anders denkt als ich. Irgendwas in seinem Kopf tickt anders als in meinem, und das empfinde ich als befruchtend.
Ingo ist ein schlauer Kerl, der mir schon eines meiner alten Vorurteile abgewöhnt hat, nämlich das hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Rechtschreibfähigkeit und Intelligenz. Ingo hat eine vollkommen außerirdische Orthographie, aber er ist gleichzeitig sehr intelligent. Ich liebe so etwas, ich liebe es, wenn ich erkenne, etwas falsch eingeschätzt zu haben. Ich meine, ich liebe nicht die falsche Einschätzung, ich liebe die Erkenntnis.
Dieses Vorurteil treibt viele um, ich führe es auf eine kleinbürgerliche Erziehung zurück. Es gibt ja nicht wenige Menschen, die sich auf ihre angeblich perfekte Rechtschreibung einiges einbilden. Sie halten sich nachgerade fest an ihren korrekten ths und ss und der perfekt einstudierten Groß- und Kleinschreibung. So etwas mag ein Indikator für was auch immer sein, aber im Augenblick sitzt neben mir ein Mensch, der Pflicht ohne t schreibt und sämtliche andere Rechtschreibsünden begeht, und ich weiß, dass er die meisten dieser peniblen Rechtschreibvögel, wasLuzidität, Phantasie, Wissen, Geist, Witz und Intelligenz anbetrifft, zehnmal in die Tasche steckt.
Ich habe mich eine Weile in meinen Fiebergedanken verloren. Der kastrierte Pfarrer singt immer noch aus dem Lautsprecher sein Jesuslied. Wir bestellen Ćevapčići.
Ich schleppe mich zur Apotheke und besorge ein Fieberthermometer. Im Schatten vor der Tür stecke ich es mir in die Achselhöhle. 39,2. Ich habe nicht schlecht geschätzt. Die Temperaturanzeige neben dem Eingang steht auf 39,5 Grad. In mir ist es also doch geringfügig kühler als draußen.
Die Ćevapčići stehen bereits auf dem Tisch. Anders als am Vorabend gibt es keine Zwischenfälle. Wir bestellen Campari Orange und Gin Tonic, spielen mit Bierdeckeln und notieren nebenbei, was wir auf der anderen Straßenseite an Geschäften sehen.
Holli Nr. 4 – Souvenir Vis – Boutique IN – Mini Market
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