Unterwegs im Namen des Herrn
ist, doch ich werfe mir im Restoran noch eine Xanor ein. Ich habe wirklich Angst. Nicht nur vor einem Herzinfarkt in Medjugorje, sondern vor allem. Lebensangst, Krisenangst, Angst vor dem Tod, vor dem Scheitern, davor, schlechte Bücher zu schreiben, Angst vor unermesslicher Einsamkeit. Ich spüre mit verstörender Intensität, ich bin allein, alle Menschen sind allein. Durch die Watteschicht um mein Hirn hindurch empfinde ich dies als Bedrohung, für die es keine passenden Worte gibt.
Ich bin froh, als Ingo wieder da ist. Er schimpft wie Rumpelstilzchen über alle Leute, die er sieht, und der Anfall ist von einer solchen Wildheit, dass ich mir ernsthaft überlege, ihm heimlich eine Xanor ins Bier zu schmeißen. Ich verziehe mich in den Souvenirladen direkt hinter mir, wo ich mich nach langem Herumstehen zwischen Rosenkränzen und Jesusstatuen für eine Art Tafelbild entscheide, auf dessen einem Flügel die Gospa in herzloser Ausdruckslosigkeit zur Seite starrt und auf dem anderen über einem Bild der Kirche von Medjugorje steht:
Wenn ihr wüsstet,
wie sehr ich euch liebe,
würdet ihr vor
Freude weinen.
Um halb vier hält der Mercedes meines Vaters vor dem Restoran Pivnica. Mein Vater Franjo hat die ganze Familie mitgebracht. Dita, seine Frau, die ungefähr ein Jahr älter ist als ich, Denis, mein Halbbruder, Nina, meine Halbschwester. Nach der Begrüßung stellt mein Vater zwei riesige Tüten voller Feigen auf den Tisch und fordert mich auf zuzugreifen.
»Du merkst aber schon, dass das ein Gasthaus ist?«, frage ich ihn.
»Na und?«
»Ich weiß ja nicht, wie sich das hier verhält, aber bei uns darf man das eigene Essen nicht mitbringen.«
In diesem Moment kommt der Kellnerbruder vorbei, und mein Vater bestellt erstens nichts zu trinken und fragt zweitens ungeniert, ob wir die Feigen essen dürfen. Der Kellnerbruder sagt Ja, und als Gipfel der Frechheit bittet ihn mein Vater, uns Teller und Servietten zu bringen. Wir bekommen beides, und ich schäme mich ein bisschen.
»Los, los! Iss! Das sind die besten Feigen! Das sind die, die dir so schmecken!«
Eigentlich habe ich keine Lust auf Feigen, aber um ihm eine Freude zu machen, esse ich ein paar. Mein Vater und ich haben zusammen oft Feigen gegessen, als ich klein war. Wir sahen einander sehr selten, und diese Feigen bedeuten ihm etwas, ich glaube, er versucht, einiges von dem, was er als Vater nicht so gut hingekriegt hat, wieder wettmachen.Deswegen tanzt er jetzt mit Feigen an und will mir jedes Mal, wenn ich bei ihm bin, Maiskolben braten.
Nach der fünften reicht es mir, Feigen auf Bier sind eine Wissenschaft für sich. Meinem Vater ist das natürlich trotzdem nicht genug, ich verweigere jedoch jede weitere Frucht. Mein Vater bietet sie nun Ingo an, aber der winkt nur fahl aus seinem Sessel.
»Ihr müsst sie mitnehmen!«
»Was? Die alle?«
»Na sicher! Habe ich für dich heute Morgen gepflückt! Du musst sie deiner Frau bringen!«
»Sag, bist du schon einmal mit einem Flugzeug geflogen? Weißt du, was sie sagen, wenn ich ihnen zwölf Kilo Feigen einschleppe?«
Mein Vater grinst. »Na ja … in die Tasche … du machst das schon.«
Ich sehe ein, es ist nicht besonders sinnvoll, mit ihm jetzt darüber zu reden. Überdies habe ich den Eindruck, er hätte ein bisschen gefeiert. Er trinkt durchaus mal das eine oder andere Glas, aber er verträgt nicht viel. Ich erzähle von der Angina. Es dauert ein bisschen, bis zu ihm durchdringt, dass ich mit ihm zur Apotheke gehen will, um dort Antibiotika zu kaufen.
Ich bitte den Kellnerfreund, eine Flasche Saft oder etwas in der Art zusammen mit vier Gläsern auf den Tisch zu stellen, dann folge ich gemächlichen Schrittes meinem auf die Straße stürmenden Vater, der immer schon eilig loslief, ehe er sich fragte, wo es eigentlich hingehen soll. Gerade als ich bei ihm ankomme, wächst vor mir der Reiseleiter aus dem Boden, der uns beiden einen sonderbaren Blick zuwirft, bevor er mit dem Kopf nickt und davonwackelt.
In der Apotheke steht eine hübsche junge Frau mit freundlichem Gesicht. Ich bin mit den Nerven mittlerweile so am Ende, dass ich Situationen nicht mehr deuten kann. In Österreich mag man noch so krank sein, man kriegt in der Apotheke ohne Rezept höchstens eine Nagelschere, und deshalb sage ich jetzt zu meinem Vater:
»Ich will, dass du ihr sagst, dass ich ihr die ganze Apotheke kurz und klein schlage. Ich zertrümmere hier alles, wenn sie nicht sofort Antibiotika gegen Angina
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