Unterwegs in der Weltgeschichte
ist nationaler Wahn.
Dabei hatte insbesondere für Deutschland nach dem preuÃischen Sieg über Frankreich alles so ermutigend begonnen. Deutschland war 1871 als einheitlicher Staat gegründet worden, sozusagen als später Nachzügler, der nicht wie England oder Frankreich stolz auf eine bereits jahrhundertelange nationale Identität zurückblicken durfte, sondern im Bedürfnis nachzuholen nun kräftig auf die Pauke hauen wollte. Und das auch tat. Die militärische Erfolgsgeschichte PreuÃens, das in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts den Sieg in Serie zunächst über Dänemark, dann Ãsterreich und schlieÃlich 1870/71 auch über Frankreich errang, begründete die herausragende Stellung des preuÃischen Königs Wilhelm I., der allerdings die Kaiserwürde des neu gegründeten Deutschen Reiches nur zögerlich annahm, weil er seine ererbte preuÃische Königskrone weit höher einschätzte.
Für die besiegten Franzosen war es ein frecher Streich, dass die deutsche Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 noch während der letzten Phase des Deutsch-Französischen Krieges ausgerechnet im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles stattfand, dem gefühlten Herzen der französischen Nation. Diese Demütigung wog weit schwerer als die Wiederinbesitznahme des von Ludwig XIV . einst requirierten Elsass-Lothringen, weil damit die nationale Seele der Franzosen eine tiefe Kränkung erfuhr. Bismarck war bis zu seinem Tode 1898 davon überzeugt, dass Frankreich diese Schmach niemals vergessen würde, und er lag damit nicht falsch. Zeitlebens versuchte er, ein Bündnis anderer europäischer Staaten mit Frankreich zu verhindern, um Revanchegelüste schon im Keime zu ersticken. Tatsächlich sollte im weiteren Verlauf der Geschichte aber Versailles der Name werden, an dem sich die europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts symbolisch festmachen lassen.
Die Kaiserproklamation im Prunksaal Ludwigs XIV. hatte den deutschen Stachel tief ins französische Fleisch getrieben. Aber es gab darüber hinaus noch viele andere Probleme, die aus kolonialen Begehrlichkeiten erwuchsen und Europa gefährlich destabilisierten: Ãsterreich-Ungarn rang mit Russland um die Frage, wer auf dem Balkan das Sagen habe; Russland und England konkurrierten um die asiatischen Fleischtöpfe; Frankreich versuchte in Ãbersee und Afrika seinen schrumpfenden Einfluss gegen England zu behaupten; Italien blickte begierig auf türkische Besitztümer. Deutschland unter Wilhelm II. schlug mit der Bagdadbahn die Brücke zum Osmanischen Reich. Und alle zugleich wollten China.
Innenpolitisch kämpfte Bismarck an zwei Fronten: gegen die immer einflussreicheren Sozialisten, die bald zur stärksten Fraktion im Reich heranreiften, und gegen den politischen Katholizismus: Im protestantisch geprägten PreuÃen-Deutschland sollte allein der Kaiser den Kurs angeben und sicher nicht der Papst, so Bismarcks Doktrin. Als halbwegs gescheiterter »Kulturkampf« ist in die Geschichtsbücher sein Versuch eingegangen, den katholischen Einfluss in Politik, Kultur und Lehre gänzlich auszuschalten.
Auch die Auseinandersetzung mit den Sozialisten war wenig erfolgreich, dafür aber sozialpolitisch fruchtbar und im Ergebnis gesellschaftlich wegweisend. Denn in seinem Bemühen, die Arbeiterschaft stärker an das Kaiserreich zu binden, führte Bismarck das erste groÃe Sozialgesetz ein: Unfallschutz, Krankenkasse, Rente. Ein enormer Fortschritt für Arbeiter und Angestellte.
Das Gift des übersteigerten Nationalismus, das übrigens auch in die Länder des Ostens als Panslawismus einsickert, wird in dieser Zeit noch in keiner Weise als gröÃte Gefahr erkannt. Mit der »Alldeutschen Bewegung«kristallisiert sich aber schon jetzt ein gefährliches Denken heraus, in dem Neuzeit und Konservatismus, Wissenschaft, Aberglaube und Nationalpathos eine verquere Beziehung eingehen. Die Anhänger nehmen Wörter wie Nation, Rasse, Vererbung, Ehre, Juden, Verschwörung, Blut zeitgleich in den Mund und träumen von der Wiederauferstehung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation: »Wir gehören einem Herrenvolk an, das seinen Teil von der Welt sich selber nimmt und nicht von der Gnade eines anderen Volkes zu empfangen sucht.« Darwins Theorie von einem evolutionären Wettbewerb unter allen Geschöpfen ( survival of the fittest )
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