Unterwegs in der Weltgeschichte
hatten sie es in geradezu kindlicher Unbedarftheit gleich zu Kriegsbeginn auf Postkarten und Truppentransporter gekritzelt. Sie wussten nichts und hatten alles noch vor sich. Der Krieg bot ihnen in Zeiten gesellschaftlicher Desorientierung vermutlich eine wohltuende Option auf Klarheit und Durchblick. Wie schön war es doch, genau zu wissen, wo der Feind steht. Wie wärmend ist Gewissheit. Wie unerträglich Ziellosigkeit. Die groÃe Erleichterung darüber, endlich ein gemeinsames gesellschaftliches Band knüpfen zu können, ist auch den Worten Kaiser Wilhelms vor dem Reichstag klar abzulauschen: »Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche!«
Ist es da Zufall, dass ausgerechnet in dieser Epoche die Darmstädter Firma Merck eine Droge auf den Markt bringt, die jedes Gefühl intensiv verstärkt und den Allmachtstaumel der Menschen rauschhaft befeuert: Kokain. Selbst ein so nüchterner Wissenschaftler wie Sigmund Freud schickt seiner Verlobten eine ganze Menge dieser »Trips«, um ihre Stimmung aufzuheitern, wie er sagt. Es ist eine Zeit, in der man nach technischen Katapulten sucht, die in eine neue Welt schleudern sollen.
Ob unsere Köpfe und Herzen heute anders denken und fühlen? Das Bedürfnis nach Gemeinschaft und nationaler Zugehörigkeit scheint zur Grundausstattung aller Menschen zu gehören. Sich als Gruppe zu definieren heiÃt zumeist Gegensätze gegenüber anderen zu konstruieren. Es ist für Menschen schwer, ohne Krieg zu leben.
Es war ja damals keineswegs so, dass es nur verblendete Politiker waren, die nach den Schüssen von Sarajewo, welche den österreichischen Thronfolger töteten und damit an einem schönen Sommertag Ende Juli 1914 die Kettenreaktion des Untergangs auslösten, die allgemeine Kriegsbegeisterung entfachten. Der Erste Weltkrieg begann in fast allen europäischen Ländern als Volksbewegung. Als Volksfest. Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass selbst ein so feinsinniger Lyriker wie Rainer Maria Rilke am Tag der Mobilmachung über den Münchner Odeonsplatz rannte, laut rufend: »Endlich wieder ein neuer Gott!« Damit meinte er den Krieg, den neuen Krieg, den industriellen Krieg, den selbst die Sozialdemokraten begrüÃten, ohne ihn zu kennen. Grobe Fahrlässigkeit oder kollektiver Wahn?
Nationales Gefühl in Ãberdosis wird zur gefährlichen Droge. Das ist die Erkenntnis, die von dieser Epoche ausgeht. Und es ist wohl nicht falsch, wenn man behauptet, dass damals jeder Politiker, der sich dem nationalen Sturm entgegengestemmt hätte, von der entfesselten Begeisterung des Volkes hinweggefegt worden wäre, ob in Deutschland, England oder in Frankreich. Die industrielle Gewalt dieses Krieges hat dann aber gleichwohl alle überrascht und geschockt. In den Materialschlachten bei Verdun wurde mehrmals an nur einem einzigen Tag so viel Munition verschossen, wie man im gesamten Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 verbrauchte. Am Ende liegen 17 Millionen Tote auf den Schlachtfeldern. Und Deutschland, dem nach Siegermanier die Alleinschuld an diesem europäischen Fiasko zugeschrieben wird, wird mit den Versailler Verträgen eine Reparationslast aufgebürdet, die alle Möglichkeiten des verwundeten Landes übersteigt. Zu Recht haben die Historiker in Hinblick auf den Ersten Weltkrieg von der »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts« gesprochen. Denn alles, was folgte, ist Konsequenz dieser Völkerschlacht, die das Ergebnis eines fahrlässigen nationalen Säbelrasselns war: die Oktoberrevolution in Russland, der sowjetische Kommunismus, die Inflation, die Weltwirtschaftskrise, der Aufstieg des Nationalsozialismus, der Faschismus, die strategische Blockbildung von Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg.
36. Der groÃe Knall und die Kraniche
D iese herzzerreiÃende Geschichte kennt in Japan jedes Kind: Als die zehnjährige Sadako Sasaki im Jahre 1955 an Leukämie starb, hatte sie über 1600 Papier-Kraniche nach der japanischen Origami-Tradition gefaltet. Ihre beste Freundin hatte ihr zuvor davon erzählt, dass die Götter demjenigen seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen würden, der es schaffe, mindestens tausend Kraniche zu basteln. Aber Sadakos Wunsch, einfach weiterleben zu dürfen, wurde ihr dennoch nicht erfüllt. Sie starb 1955 an den schrecklichen Spätfolgen eines Knopfdrucks, der nicht nur ihr Leben und das hunderttausend anderer
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