Unterwegs in der Weltgeschichte
durch den hohen Rang und die Aura ihrer Krieger, deren Heldentaten es zu rühmen gilt, schimmert zwar in der »Ilias« noch deutlich durch. Aber in der »Odyssee« darf auch das einfache Volk, vertreten durch Hirten und Bauern, den Lauf der Dinge mitbestimmen. Und die militärischen Führer treffen ihre Entscheidungen nicht mehr selbstherrlich allein, sondern Homer lässt sie Krieger- oder sogar Volksversammlungen einberufen, was im mykenischen Zeitalter nicht möglich war.
Das Griechenland Homers ist zwar in kleine Königreiche eingeteilt. Aber deren Herrscher sind eher Grundbesitzer als Machtträger, und der Alltag der Könige verläuft kaum anders als der ihrer Untertanen: »Für Odysseus ist es selbstverständlich, sein Feld zu bestellen, Nausikaa, Tochter des Königs der Phäaken, wäscht gemeinsam mit den Sklavinnen die Wäsche der Familie, und die Königinnen verbringen den Tag mit dem Spinnen von Wolle« (Catherine Salles).
»Ilias« und »Odyssee« sind als ein Gemisch aus sehr unterschiedlichen Epochen zu lesen. Homer beschreibt Ereignisse, die er im 12. Jahrhundert ansiedelt, und lässt dabei Bräuche seiner Zeit wie auch sehr viel ältere Wirklichkeiten einflieÃen. Die beiden Versepen tragen die Erinnerung an das heroische Zeitalter der mykenischen Kultur in diese neue Zeit einer sich festigenden Welt des Griechentums hinüber. Eine Welt, in der die Machtstellung der Könige allmählich schwindet. An ihre Stelle tritt eine Art Selbstverwaltung der Bürger in kleinen autonomen Gemeinschaften, die durch den Adel und durch Grundeigentümer gelenkt werden. Das System der Polis entwickelt sich.
Und die griechische Glaubens- und Götterwelt gewinnt ihre endgültige Gestalt. Auf dem Olymp nehmen, um Vater Zeus herum, die einschlägigen mythologischen Verdächtigen Platz, denen Homer das Spielfeld zuweist: Sie sind weder allmächtig noch allwissend, denn auch die Götter bleiben â wie die Menschen â der Moira, der Allgewalt des Schicksals, unterworfen.
Und das Trojanische Pferd? Vielleicht ist es ja gut, dass es in der Mythologie geblieben und nicht in die reale Geschichte galoppiert ist. Dort hätte es seinen Ruhm ein knappes Jahrtausend später an einem hochkarätigen Konkurrenten messen müssen: an Bukephalos, dem Pferd Alexanders des GroÃen.
8. Die Frösche am Teich und die Demokratie
S chöner, heiterer, anmutiger als auf dieser idealen Ansicht des Malers und Architekten Leo von Klenze aus dem Jahr 1846 ist die Akropolis, Wahrzeichen und einst auch religiöses Zentrum der Stadt Athen, wahrscheinlich nie porträtiert worden. Dem Hofbauintendanten des bayerischen Königs Ludwig I. wird nicht umsonst nachgesagt, er habe nicht nur München in ein Athen des 19. Jahrhunderts verwandeln, sondern anschlieÃend wiederum Athen in ein zweites München verwandeln wollen.
Als Ludwigs Sohn Otto 1832 den Thron Griechenlands bestieg, war diese Chance da. Aber die städtebauliche Umgestaltung Athens blieb weitgehend Vision. Wegweisend waren dagegen Leo von Klenzes Pläne für den Schutz und die Restaurierung der Akropolis, die er denn auch so liebevoll malte, dass der Betrachter unmittelbar in das Gemälde und damit zugleich in die griechische Geschichte eintreten möchte.
Sie beginnt nicht hier, diese Geschichte, sie kommt, wie Sie sehen werden, eher hierher zurück. Aber der Blick auf die alles dominierende Burg und die hoch aufragenden Tempel, Standbilder und Säulenhallen ruft schon jetzt die Frage in Erinnerung, die es so lange nicht gab, bis die Griechen sie endlich und erstmals in der Geschichte stellten: die Frage, wer eigentlich herrschen soll und darf â ein König, ein Monarch, der Adel oder vielleicht sogar das Volk?
Aber zuvor musste erst einmal jemand zu fragen anfangen.
Er kam aus der Hafenstadt Milet im südwestlichen Kleinasien, Zentrum altgriechischer Kultur und wichtigster Umschlagplatz für den Handel mit dem Orient. Er liebte die zerklüftete, buchtenreiche Küste seiner ionischen Heimat und den Blick über das Meer nach Westen, aber ebenso vertraut war ihm der Fluss aus dem Osten, der Mäander, der allen Stromschleifen der Welt den Namen geben sollte und nach windungsreichen 584 Kilometern hier bei Milet sein Ziel fand: die Ãgäis.
Er war der Erste, der nach der Ordnung der Dinge, nach dem groÃen Ganzen und seinen Teilen fragte. Er
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