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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Häusern hockten alte Männer in der Sonne, rauchten ihre langen Pfeifen, Großmütter schoben Bambuskinderwagen in die Parks, vom Bahnhof strömten Besucher zum Tiananmen-Platz, um sich vor dem Tor des Himmlischen Friedens, dem Eingang zum alten Kaiserpalast, fotografieren zu lassen. Zehntausende wanderten durch die Einkaufsstraßen und betrachteten die Auslagen in den Schaufenstern. Manchmal wollten alle mitreden, die in kleiner Gruppe vor einem Schaufenster standen: ob ein Teekessel Fehler habe, ob er zu teuer sei, ob es anderswo nicht einen besseren gebe. Vor den Geschäften in den kleinen Seitenstraßen drängte sich die Menge Schulter an Schulter. Alle Läden waren staatseigen, aber deshalb keineswegs gleich. In manchen bemühten sich die Angestellten, mit dem wenigen, was es zu verkaufen gab, die Schaufenster nett und attraktiv zu gestalten. Zahnbürsten, Seife und bunte Plastikbecher wurden zu Blumen oder Lampions zusammengestellt, Zigarettenschachteln oder Kuchenstücke wurden aufgebaut wie die Große Mauer. In der schmalen Dashalan-Straße, wo vor dem Sieg der Kommunisten Seidenhändler teure Ware feilgeboten hatten, gab es in den kleinen Läden längst nur noch die blauen Baumwollstoffe, aus denen alle ihre Jacken und Hosen schneiderten. Die Stoffe waren rationiert: zwei Meter pro Käufer. Gegenüber konnte man Töpfe, Pfannen und Thermosflaschen erstehen. In einem Schaufenster standen lauter Wecker mit Pandabären auf den Zifferblättern, die mit den Augen rollten und jede Sekunde mit dem Kopf abnickten. Es gab auch eine traditionelle Apotheke, die einen Rehfötus in einem Glas ausstellte, dazu bizarre Ginseng-Wurzeln und die fossilen Knochen längst ausgestorbener Tiere, sogenannte Drachenknochen, die Gesundheit und Männlichkeit fördern sollten. Spielzeugläden boten Puppen, kleine Gewehre und billige Bambuskinderwagen an. In einem anderen Laden aber war die moderne Zeit eingezogen. Hier fand man Transistorradios und ein paar kleine Schwarzweißfernseher, die 300 Yuan kosteten, was etwa sechs Monatslöhnen eines Industriearbeiters entsprach.
    Zwischen den engen Straßen lagen ein paar große Abstellplätze, wo ältere Frauen Radfahrer aufforderten, ihre Fahrräder abzuschließen, und ihnen eine kleine hölzerne Plakette mit einer Nummer in die Hand drückten. Dass es auch im neuen China eine Menge Fahrraddiebe gab, hatte die Propaganda uns Ausländern nicht erzählt. Neben einem unauffälligen zweistöckigen Gebäude waren einige Dienstwagen geparkt: ältere schwarze Limousinen russischen Fabrikats oder grüne Autos vom Typ »Shanghai«, dem chinesischen Wagen für die Mittelklasse der Funktionäre. Gesetzte Herren stiegen mit ihren Frauen und Töchtern aus, die wie alle Chinesen vorschriftsmäßig in blaue Hosenanzüge gekleidet waren. Sie gingen in ein unauffälliges Restaurant, von dem ich in alten Reiseführern gelesen hatte. Dies war das einst berühmte und nach wie vor beste Restaurant für Pekingente. Die meisten Passanten sahen es von der Straße aus nicht, wären aber selbst dann nicht eingelassen worden, wenn sie das nötige Geld dafür gehabt hätten.
    Nicht weit entfernt davon lag das siebzehnstöckige Peking-Hotel. Dessen automatische Türen ließen sich ohne Berührung öffnen und schließen. Das war eine Attraktion für die Besucher vom Lande, die staunend auf der Straße stehenblieben. In der Nähe des Hotels befand sich Pekings größtes Kaufhaus. An den Theken im Erdgeschoss wurden Hunderte verschiedener Süßigkeiten aus ganz China angeboten, daneben aber auch in Aluminium verpackte Zigarren aus Kuba. Ich schaute zu, wie Leute vom Lande einfache Artikel wie Kugelschreiber oder Füllfederhalter bestaunten und wie sich an einem Ladentisch eine Menschentraube bildete, als die Verkäuferin eine Schweizer Armbanduhr aus einer Schatulle nahm. 800 Yuan sollte sie kosten – anderthalb Jahresgehälter für einen Industriearbeiter und eine unvorstellbare Summe für die Besucher aus den Dörfern.
    Aus dem Verhalten der Menschen konnte ich schließen, dass ganz verschiedene Elemente der chinesischen Lebensweise trotz Revolution und Umerziehung überlebt hatten und dass sich deshalb keineswegs einfach voraussagen ließ, welche Entwicklung China nehmen würde. Immerhin gab es Anzeichen für eine bevorstehende Lockerung des Verhältnisses zum Rest der Welt. Zu den ersten derartigen Signalen gehörte die Einladung einer westdeutschen Wirtschaftsdelegation nach Peking. Zwanzig Jahre zuvor waren die

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