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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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neuen Schrecken der Kulturrevolution, die Mao in Gang gesetzt hatte. Er empfahl mir einige Bücher, besonders das eines katholischen Missionars, der die Machtergreifung der Kommunisten erlebt, erlitten und genau geschildert hatte. Die revolutionären Veränderungen in China und ihre Folgen hatten Wehner nach den Erfahrungen seiner Moskauer Emigrationsjahre lange beschäftigt. Das Gespräch mit ihm war ebenso überraschend wie faszinierend. Als ich mich verabschiedete, hatten zwei Journalisten, die in seinem Vorzimmer warteten, zu meiner Begrüßung schon Mitleidsmienen aufgesetzt. Dass uns beiden China so wichtig erschien, war ihnen kaum verständlich. Und dass man dafür einen guten Posten in Bonn freiwillig verlassen kann, verstanden sie erst recht nicht. Mich hingegen faszinierte die Gelegenheit, nach der Sowjetunion und den USA nun das dritte große Land kennenzulernen, das – so dachte ich – auf der schwierigen Suche nach seinem Platz in der Weltpolitik sein musste.

»Wir haben hier viele Kränze gesehen,
aber keinen Kranz aus dem Nordwesten.«
    Peking 1973–1976
    Als ich Anfang 1973 nach China kam, fegte ein kalter Winterwind durch Peking. Sandwolken aus der Wüste Gobi verdunkelten den Himmel, und man konnte nicht einmal mehr die Häuser auf der anderen Straßenseite sehen. Ich hatte das Land ein halbes Jahr zuvor aus der Perspektive einer sommerlichen Prominentenreise erlebt und merkte nun deutlich, dass ich als ständiger Korrespondent unter ganz anderen Bedingungen würde arbeiten müssen. Während ich in diesen ersten Tagen durch Peking lief, konnte ich mir kaum vorstellen, was die Stadt in diesem Jahrhundert alles erlebt und überstanden hatte: das Ende des Kaiserreichs, den Bürgerkrieg, den Einmarsch der Japaner, noch einmal Bürgerkrieg und Revolution und schließlich Maos »Großen Sprung nach vorn«, der viele Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Nach einer Atempause und dem Versuch eines geordneten wirtschaftlichen Aufbaus war schließlich Mitte der sechziger Jahre die »Große Proletarische Kulturrevolution« gefolgt, durch die so viele Chinesen ihr Leben verloren hatten, dass darüber bis heute keine zuverlässigen offiziellen Zahlen veröffentlicht werden. Je nach Berechnungsgrundlage liegt die Opferzahl zwischen drei Millionen und sechzig Millionen. Bevor ich nach China fuhr, kannte ich nur einige begeisterte Beschreibungen von Mao-Fans, von denen es zeitweise auch in Deutschland ziemlich viele gab. Nun sah ich ein anderes China und merkte, dass Ausländer in der Millionenstadt Peking noch isolierter waren, als ich es mir vorgestellt hatte.
    Ich wohnte im Minzu-Hotel, einem großen Gebäude am Rande der Innenstadt, das im Moskauer Stil erbaut und mit russischem Plüsch eingerichtet worden war. Hier hatte man für mich eine Zweizimmersuite zum Wohnen und Arbeiten bereitgestellt. Das war nicht unbequem, aber weit abgelegen vom belebteren Zentrum und vom Viertel der ausländischen Botschaften am Stadtrand. Die wenigen Ausländer, die für chinesische Stellen arbeiteten, waren in einem eigenen Wohnheim isoliert. Im Minzu wohnten nur Ausländer aus dem Westen oder der Dritten Welt, und von ihnen gab es nicht sehr viele. Abends schloss das Restaurant bereits um neun Uhr, und der große Hotelbau lag dann wie ausgestorben da.
    Immerhin stand uns Gästen ein Büro für Dienstleistungen zur Verfügung, das uns ein Ausländer-Taxi und einen Englisch sprechenden Reiseführer bestellen konnte. So klapperte ich die Büros der wenigen westlichen Kollegen ab, um mir das Leben in Peking und die Arbeitsmöglichkeiten erklären zu lassen. Da gab es zwei Franzosen, zwei Engländer und einen Kanadier, der zwar für die New York Times arbeitete, aber für eine Zeitung aus seinem Heimatland akkreditiert war, weil zwischen Peking und Washington noch keine diplomatischen Beziehungen bestanden. Dann war da eine Reihe japanischer Korrespondenten, die anscheinend nur mit anderen Japanern Kontakt hielten, und schließlich Pressevertreter aus der Sowjetunion und den Ostblockstaaten, auch aus der DDR , die einerseits zu allen westlichen Kollegen Distanz halten mussten, andererseits wegen der gespannten Beziehungen zwischen Moskau und Peking vom chinesischen Leben abgeschottet wurden. Als Korrespondenten aus der Bundesrepublik Deutschland waren wir zu dritt: außer mir ein Kollege von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , der wenige Wochen vor mir nach Peking gekommen war, dann Hans-Joachim Bargmann von der

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