Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Minzu-Hotels, schienen mir mithin von tödlicher Langeweile geprägt. Auch alle meine Bemühungen, über die Presseabteilung des Außenministeriums und das Versorgungsbüro für ausländische Diplomaten eine eigene Wohnung zugeteilt zu bekommen, blieben erfolglos. Das bedeutete, dass ich keine Mitarbeiter beschäftigen konnte. Ich hatte gehört, dass ein neues sechsstöckiges Wohnhaus für Ausländer fertiggestellt worden war und dass darin eine ganze Reihe Wohnungen leer stand. Zwei junge Engländer, die täglich für ihre Botschaft einen Informationsdienst mit Artikeln aus der chinesischen Presse erstellten, waren neben einer englischsprachigen chinesischen Tageszeitung die einzige Informationsquelle für uns Ausländer. Von ihnen erfuhr ich, dass leer stehende Wohnungen in Reserve gehalten würden, bis die USA eine Botschaft in Peking eröffnen konnten. Aber niemand wusste, wann das geschehen würde.
Was blieb mir anderes übrig, als die Millionenstadt zu durchwandern und mit eigenen Augen zu erforschen? Die wenigen ausländischen Besucher, die in dieser Zeit nach China eingelassen wurden, neigten dazu, ihre Hoffnungen und Ängste auf eine Wand von Millionen Menschen in gleich geschnittenen blauen Anzügen zu projizieren. Die meisten von ihnen – Rechte wie Linke – waren von China beeindruckt. Die einen bewunderten den disziplinierten Nationalstaat, der eines Tages der Sowjetunion entgegentreten würde, die anderen sahen in China den konsequenten revolutionären Kommunismus, frei von Erscheinungen der sowjetischen Verbürgerlichung. Je länger ich die Chinesen beobachtete, desto deutlicher bemerkte ich jedoch Verhaltensweisen, die weder in das Schema eines disziplinierten kommunistischen Kommandostaats passten noch in eine Gesellschaft freier revolutionärer Initiative. Schon am ganz alltäglichen Straßenleben war das abzulesen. Ich musste dazu nur morgens früh aus meinem Hotel auf die breite Changan-Avenue treten.
Gegen sechs Uhr rollte eine ganze Armee von Radfahrern über die breite Avenue des Ewigen Friedens und drängelte sich in Richtung Stadtzentrum. Ihnen kamen verschlafene Bauern entgegen, die Ladungen frisches Gemüse in die Stadt geliefert hatten. Sie nickten auf ihren Karren ein, während ihre Pferde heimwärts trotteten. Für Pferdewagen und Traktoren war die Innenstadt tagsüber Sperrgebiet, und die Verkehrspolizisten an den großen Kreuzungen hatten mit ihnen wenig Geduld, weil sie das Bild einer modernen sozialistischen Hauptstadt störten und den Verkehr behinderten. Oft mussten die Bauern deshalb vom Wagen springen und ihre Pferde im Dauerlauf durch die Masse der Radfahrer über die Kreuzung ziehen. Dazu kamen die Lastwagen, die sich ihren Weg durch das Heer der Radfahrer zu hupen versuchten, weil sie sich mit ihrem motorisierten Fahrzeug als Vertreter eines neuen Zeitalters fühlten, das nicht durch Karren, Fahrräder und Fußgänger aufgehalten werden dürfe. Die Fahrer der wenigen schwarzen Dienstwagen, die ihre Chefs zu Ministerien und Verwaltungen bringen sollten, versuchten die »Massen« nicht zu verärgern. Schließlich waren die Radfahrer fest davon überzeugt, dass sie als das Volk stets Vorfahrt haben sollten und dass die Verkehrsampeln für sie nichts bedeuteten. Da konnten die Polizisten durch Lautsprecher und Megafone noch so viele Anweisungen brüllen. Gelang es ihnen doch einmal, aus der Menge einen renitenten Radfahrer herauszugreifen, dann zogen sie blitzschnell den Schlüssel aus dem Fahrradschloss am Hinterrad, damit der Betreffende nicht das Weite suchen konnte. Anschließend versuchten sie, ihm die Grundregeln des Straßenverkehrs beizubringen. Meist jedoch gesellten sich andere Radfahrer dazu, ergriffen Partei gegen die Verkehrspolizisten und unterstützten lautstark die Proteste ihres Kameraden. Das kommunistische China, so glaubten wir Ausländer, wenn wir in dem Land ankamen, sei ein disziplinierter Polizeistaat, aber die Polizisten konnten nicht einmal Strafzettel ausstellen und Geldbußen kassieren. Im schlimmsten Fall meldeten sie einen Radfahrer in seiner Fabrik oder an seinem Arbeitsplatz und verlangten, dass er über korrektes Verhalten im Verkehr belehrt werde. Doch das schienen die Zehntausende auf der Straße nicht zu fürchten. Sie nahmen die Botschaft der Kulturrevolution ernst, wonach das ganze Land den werktätigen Massen gehöre.
Nach dem wüsten Gedränge des morgendlichen Berufsverkehrs fand ich die großen Straßen tagsüber recht still. Vor den
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