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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Akten und Aufzeichnungen. »Kannst du schnell herkommen und mich abholen?«, fragte er. Ich war in all den Jahren nie in den ZK -Komplex eingelassen worden, aber nun fuhr ich sofort los, gespannt auf das, was sich dort Ungewöhnliches tat. Der Haupteingang war mit einem weißen Plakat verschlossen, auf dem »Versiegelt« stand. Daneben klebte ein kleineres Blatt mit der Aufschrift » KP nach Nürnberg«. Einige Hundert Leute standen vor dem Gebäude und riefen begeistert »Russland, Russland!«, als die riesige rote Fahne auf dem Dach des ZK eingeholt und die neue, weißblaurote Fahne Russlands am Mast aufgezogen wurde. Die Mitglieder und Mitarbeiter des Zentralkomitees mussten sich in einer Art Spießrutenlauf in Sicherheit bringen: durch die Gittertüren des Hinterausgangs hindurch, vorbei an höchstens einhundert oder zweihundert Menschen, die das Gebäude besetzen wollten und die Funktionäre verhöhnten, ohne gewalttätig zu werden. Auch mein Bekannter war auf diesem Weg bereits aus dem ZK herausgekommen, vermutlich ohne seine Akten. Als ich dort ankam, standen am Hinterausgang schon Vertreter des russischen Präsidenten, die die ZK -Mitarbeiter schützten und zugleich dafür sorgten, dass sie weder Papiere noch Wertgegenstände mitnahmen.
    Es war das Ende der kommunistischen Partei. Aber Gorbatschow, ihr Generalsekretär, konnte das nicht wissen. Er hatte die letzten Tage, von aller Welt abgeriegelt, mit seiner Frau und seiner Enkelin in der großen Datscha am Schwarzen Meer verbracht. Die Putschisten hielten ihn dort fest. Nicht einmal eine Telefonverbindung in die Hauptstadt war ihm geblieben, ehe ihn eine Maschine aus Moskau auf Jelzins Anweisung abholte. Am 22. August um ein Uhr nachts stiegen die Gorbatschows auf dem Flughafen Wnukowo bei Moskau aus dem Flugzeug. Sie wirkten wie unter Schock, und Gorbatschows erste Worte, die er noch auf der Flugzeugtreppe sagte, ließen erkennen, dass er nicht begriffen hatte, was geschehen war. Er habe die Lage unter Kontrolle, ließ er – müde, aber doch ganz Präsident – die Wartenden wissen. Am nächsten Tag werde er seine Amtsgeschäfte in vollem Umfang wieder aufnehmen. Es klang so, als käme er von einigen Urlaubstagen auf der Krim zurück. Gorbatschow wollte oder konnte nicht verstehen, dass ihn die Männer, denen er in Partei, Parlament und Regierung vertraut hatte, verraten und entmachtet hatten. Immer noch verstand er sich als Generalsekretär der kommunistischen Partei und als Präsident der Sowjetunion.
    Am vierten Tag nach dem Putsch fuhr Gorbatschow zum russischen Parlament. Er kam, um Jelzin für seine Unterstützung zu danken, aber auch, um als heimgekehrter Präsident der Sowjetunion seine Pläne für eine Erneuerung des Landes durch eine geläuterte Partei unter seiner Führung zu entwickeln. Für die Leute, die den Staatsstreich organisiert und unterstützt hatten, fand er allerdings keine harten Worte. Da legte Jelzin das Protokoll der Kabinettssitzung vom ersten Tag des Putsches auf den Tisch. »Sie lesen das jetzt!«, sagte er, und ein verwirrter Gorbatschow musste dem Parlament vorlesen, was er bis zu dieser Stunde nicht hatte glauben wollen: dass die meisten Kabinettsmitglieder und ZK -Sekretäre sich für seine Absetzung ausgesprochen hatten. Die Abgeordneten klatschten Beifall, aber sie klatschten nur für Jelzin. Bevor er den nächsten Redner aufrief, sagte Jelzin: »Genossen, gestatten Sie mir, dass ich zur allgemeinen Entspannung einen Erlass über die Einstellung aller Aktivitäten der Russischen Kommunistischen Partei unterschreibe.« In dem stürmischen Beifall versuchte Gorbatschow noch einmal vergeblich zu Wort zu kommen. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben Jelzin. Abends im Fernsehen sah das ganze Land, wer der erste Mann im neuen Russland war.
    Vier Monate noch blieb Gorbatschow als Präsident ohne Macht im Kreml. In den Jahrzehnten zuvor hatten ausländische Korrespondenten keinen Zutritt zu den Arbeitsräumen der sowjetischen Staatschefs gehabt. Nun konnte ich mit meinem Kamerateam den Schlussakt der Geschichte der Sowjetunion filmen: Gorbatschow kam ganz allein die breite, dunkle Treppe im Kreml herauf, auf der ihm einige Minuten später Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, der Präsident der Ukraine, folgten. Sie waren gekommen, um ihm mitzuteilen, dass das Amt des Präsidenten der UdSSR am Ende des Jahres erlöschen werde. Zum 31. Dezember werde die Sowjetunion aufgelöst, verkündeten die beiden als Vertreter der fünfzehn

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