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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Einzelrepubliken.
    Für die letzten Tage des Jahres blieben noch einige zeremonielle Termine, zu denen der sowjetische Präsident in sein altes Arbeitszimmer im Kreml kam. Kurz vor Weihnachten empfing er eine größere deutsche Delegation von Wirtschaftsführern, Politikern und Journalisten, die dem notleidenden Land mit großzügigen Spenden weiterhelfen wollte. Er dankte ihnen. Die deutschen Besucher wussten natürlich, dass es mit Gorbatschows Macht zu Ende war, aber sie schienen es doch nicht recht glauben zu wollen. Die Begegnung mit dem von ihnen bewunderten sowjetischen Staatschef wuchs sich zu einem Gespräch über die wirtschaftliche und politische Entwicklung Russlands aus. Er antwortete höflich, wenn auch mit müder Stimme. Dann kam eine ganz lange Frage zu Details der wirtschaftlichen Entwicklungsplanung. Gorbatschow zögerte lange, dann guckte er mich an: »Gerd, kannst du das den Gästen erklären?« Ich war ihm zwar einige Male begegnet, aber geduzt hatte er mich nie. Er muss sich an diesem Nachmittag sehr verlassen gefühlt haben.

»Das Leben besteht aus Fragen.«
Schluss
    Michail Gorbatschow war der letzte Präsident der riesigen Sowjetunion. Boris Jelzin war der erste gewählte Präsident des neuen, immer noch großen Russland. Die beiden waren im Laufe der Auflösung des Vielvölkerstaats zwischen Pazifik und Ostsee zu Gegnern, schließlich zu ausgemachten Feinden geworden. Trotzdem haben sie gemeinsam die große Leistung vollbracht, dass sich der hochgerüstete sowjetische Polizeistaat mit seiner gescheiterten Kommandowirtschaft ohne Bürgerkrieg und Selbstzerstörung in ein anderes Land verwandelte.
    Jedes Mal, wenn ich nach Ablauf meiner Korrespondentenzeit nach Russland zurückkehrte, entdeckte ich viele sichtbare Veränderungen, konnte mir aber kein Bild davon machen, wie dieses Russland in Zukunft aussehen und funktionieren würde. Dabei war die Hoffnung der meisten Russen, die ich im weiten Land außerhalb von Moskau kennengelernt hatte, gewöhnlich nicht sehr groß gewesen. Sie erlitten und erlebten die tiefen Veränderungen zunächst nur als Zerstörung der gewohnten Lebensordnung, mit Verschlechterungen im Alltagsleben und einer neuen Art von Ungerechtigkeit. In der Hauptstadt Moskau aber lernte ich nun ganz andere Leute kennen: junge Wirtschafts- und Industriefunktionäre, die sich erstaunlich schnell und erfolgreich durch den Dschungel einer ganz oder teilweise privatisierten, in vielen Fällen schließlich wieder unter staatliche Kontrolle zurückgeführten neuen Wirtschafts- und Finanzwelt kämpften. Sie waren zu Millionären und Milliardären geworden und wollten nun mit Politikern und Funktionären, die sich eilig den gewandelten Verhältnissen angepasst hatten, eine Gesellschaft ganz neuer Ordnung errichten. Vielen erschien diese Welt der neuen Reichen als Anfang eines Aufstiegs zum allgemeinen Wohlstand. Wenn ich vorsichtig einwandte, dass auch der Kapitalismus seine Schwierigkeiten mit sich bringe, stieß ich in den ersten Jahren in Jelzins Russland auf Unverständnis und manchmal auf den Vorwurf, ich unterschätzte die Leistungsfähigkeit der Russen aus westlichem Hochmut. Statt einer breiten Diskussion über die zukünftigen Strukturen von Politik und Wirtschaft gab es hauptsächlich das Versprechen, dass es im Laufe der nächsten Jahre besser werden würde.
    Zunächst waren die ersten Experimente noch auf seltsame Weise von marxistischen Theorien geprägt. Auf halbem Wege zwischen Moskau und Petersburg besuchte ich die größte Streichholzfabrik Russlands, die nicht mehr dem Staat gehörte. Sie sollte eine Art Aktiengesellschaft werden, deren Anteile nur an die Mitarbeiter vergeben wurden. Aber diese Weitergabe gemeinsamen Reichtums war den Betriebsangehörigen so undurchsichtig erschienen, dass sie ihre Anteile schnell verkauften. In einem Büro saß die Schwiegermutter des Direktors mit einer großen Kasse und tauschte die »Tschekis« genannten Aktien gegen Rubelscheine aus. Dass selbst weiche Rubel besser seien als die Tschekis, überzeugte fast alle, die ihr Leben lang nur Schlimmes über den Kapitalismus gehört hatten – die Gewinner dieses Geschäfts waren am Ende der Direktor und seine Schwiegermutter. Doch nicht nur die Leute in der Provinz waren misstrauisch: Die zweitgrößte Zeitung Russlands, die Iswestija , wurde in den Besitz ihrer Mitarbeiter überführt, aber nach zwei Jahren schon zeigte sich, dass die meisten ihre Anteile weiterverkauft hatten, ohne die

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