Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Kollegen Miteigentümer zu informieren. Die Aktien gingen nun durch die Hände der neuen Geschäftsleute an Großkonzerne, dann an den Ölriesen Gazprom und schließlich in den Privatbesitz eines Milliardärs mit guten Beziehungen zur Regierung.
Im Laufe der ersten zehn Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion wuchs besonders außerhalb der Großstädte die Unzufriedenheit mit den verschlechterten Lebensverhältnissen. Weit von Moskau leerten sich die Kleinstädte und Dörfer, am Rande der Arktis begann der Fortzug aus Landstrichen, die seit der Stalin-Zeit von Moskau aus besiedelt worden waren und deren Bewohner sich nun vergessen und abgeschrieben fühlten. In den sibirischen Großstädten hat ein Prozess der Abwanderung der gebildeten Jüngeren in den Westen Russlands begonnen, der sich dort bei der Schicht der jungen Akademiker mit der Hoffnung auf ein besseres und interessanteres Leben im Ausland fortsetzte.
Nach acht Jahren Amtszeit hatte Jelzin das Ansehen seiner Präsidentschaft abgebaut. Als er seinem Nachfolger Wladimir Putin die Macht überließ, trauten viele Russen dem Mann aus dem Mittelbau des KGB zu, mit Parolen des autokratisch gelenkten Staatskapitalismus eine leistungsfähigere Gesellschaft auf den Weg zu bringen. Auch die alten nationalistischen Schlagworte von Russlands Größe und Macht hatten ihre Kraft nicht verloren. Die Wiederbelebung der stalinschen Nationalhymne – ohne Erwähnung Stalins – klang vielen gut in den Ohren, ebenso wie die Bekenntnisse zu Ordnung und Disziplin. Eine Mehrheit der Bevölkerung war bereit, Putin zu folgen und ihn zum Staatschef zu wählen. Aber zugleich nahm die Zahl der russischen Bürger zu, denen die mäßigen Verbesserungen des Lebensstandards kein Ausgleich für die Einschränkung demokratischer Mitwirkung und Meinungsfreiheit zu sein schienen.
Wladimir Putins Überzeugungskraft hat inzwischen nachgelassen, die Zahl der Gegenstimmen bei Wahlen und der Teilnehmer an Protestdemonstrationen ist gewachsen. Eine Mittelschicht beginnt zu entstehen. Immer mehr Studenten und Professoren, junge Geschäftsleute und Facharbeiter, auch einige prominente Oligarchen und Millionäre und die weltweit bekannt gewordenen jungen Frauen, die »oben ohne« gegen den Rückfall in die alte Zwangsgesellschaft demonstrieren, sind bereit, auf die Straße zu gehen. Dennoch: Der Entwicklungsprozess in der russischen Gesellschaft, in Wirtschaft und Staat, ist längst nicht beendet, und Russland sucht weiter sein künftiges Gesicht, seine Rolle in der Welt, ohne dass die Umrisse dieser Zukunft schon deutlich zu erkennen wären.
Das aber lässt sich über fast alle der vielen Länder sagen, die ich nach meiner Zeit als ständiger Korrespondent bereist habe. 1993 wurde ich pensioniert. Zum Abschluss konnte ich drei Sendungen machen, für die ich in den Jahren zuvor niemals Gelegenheit gehabt hatte: drei ausführliche Dokumentarfilme von einer Reise durch Ostsibirien, über China nach Japan, zurück nach Sibirien und schließlich zum Abschluss in die USA nach Alaska – eine Entdeckungsfahrt, die mein Team und mich auf Reiserouten und an Grenzübergänge führte, die für Ausländer bis dahin nicht erreichbar gewesen waren. Die Sendungen kamen gut an, und der WDR ließ mich weiter drehen: Rund dreißig Berichte aus Osteuropa, Afrika, Nordamerika, China und natürlich aus Russland sind seitdem entstanden. Diese Reisen wurden für mich zur Wiederbegegnung mit Ländern, die alle in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen durchgemacht hatten.
Die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart waren überall gewaltig und unübersehbar, am meisten natürlich in China. Die Radikalen der Kulturrevolution waren von der Macht verdrängt worden. Die Politik bestimmten sie nicht mehr, seit Mao tot und seine Frau im Gefängnis war. Die kommunistische Partei war die Mehrheitspartei der Wirtschaftspragmatiker geworden. Trotzdem blieb es schwer, die allgemeinen theoretischen Grundlagen dieser chinesischen Wirtschaftspolitik zu definieren. Zwischen der offiziellen Doktrin und der praktischen Ausführung tauchten Widersprüche und seltsame Brüche auf, wie sie wahrscheinlich nur ein Land wie China ertragen kann. Die Vermischung von Kommunismus, Sozialismus, Kapitalismus und undefinierter Gewinnsucht trägt heute seltsame Blüten. Die Volkskommune Hua Xi, die man mir beim ersten Besuch 1976 als leuchtendes Beispiel maoistischer Wirtschaftsführung gezeigt hatte, war mir zwei Jahrzehnte
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