Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
später durch ein Luxushotel aufgefallen, das sich der Parteisekretär Wu als Krönung der radikalen Umgestaltung hatte einfallen lassen. Inzwischen überragt es ein Neubau von 328 Metern Höhe mit einer goldenen Kugel auf der Spitze – so hoch wie die höchsten Gebäude in Peking. Hua Xi ist heute bei weitem das reichste Dorf Chinas, und seine Einwohner sind immer noch seine Besitzer: Den 400 Familien gehören die großen Industriewerke, die nun auch als genossenschaftliche Unternehmen an der chinesischen Börse notiert sind. Den Wohlstand jeder Besitzerfamilie mit umgerechnet etwa 100.000 Euro aber erzeugen 30.000 Wanderarbeiter, die in den Werkshallen zu Billigstlöhnen schuften. Der Sohn des alten Parteisekretärs Wu hat das Amt seines Vaters übernommen, heißt nun aber Generaldirektor und sieht auch wie einer aus. Doch auch er lässt über die vielen Lautsprecher an den Straßen immer wieder die Hymne spielen: »Sozialismus ist das Beste«.
In Peking hat Xi Jinping, seit November 2012 Generalsekretär der kommunistischen Partei, versprochen, den »Chinesischen Traum« der großen Wiedergeburt des Landes zu verwirklichen – vielleicht als Weltmacht, vielleicht als Wohlfahrtsstaat. Was immer von der chinesischen Politik verkündet wird, ist widersprüchlich. Das Verhältnis zu Russland bleibt unberechenbar, auch wenn Peking keine territorialen Ansprüche mehr auf Teile von Sibirien erhebt. Der Nachbar Nordkorea ist seit dem Ende des Kriegs vor über sechzig Jahren abhängig vom Schutz durch den einzigen Verbündeten China, aber die nordkoreanische Führung lässt sich von Peking nicht kontrollieren. Überhaupt scheint offen, inwieweit China in der Lage sein wird, seine riesige wirtschaftliche Kraft in der Region und darüber hinaus in politischen Einfluss umzusetzen.
Mit der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten hat sich in den USA eine dramatische Veränderung vollzogen. Doch wo ich ehemaligen Bekannten oder Kollegen begegnete, traf ich auf widersprüchliche Vorstellungen von dem, was Amerika und die Welt brauchen. In Chicago hatte ich vor fünfzig Jahren jenes Wohnviertel besucht, das damals als einziges seiner Art in den USA nicht von der Rassentrennung gekennzeichnet war. Schwarze und Weiße hatten dort seit den sechziger Jahren nebeneinander und in denselben Häusern gewohnt – überwiegend linksliberale Intellektuelle, zum großen Teil von der Universität Chicago. Auch die Mutter des Präsidenten Barack Obama hatte in dem Viertel gelebt, und Obama hatte dort Menschen kennengelernt, in deren politischem Denken die Hautfarbe keine bestimmende Rolle spielte. Nun regiert er als erster Schwarzer ein Land, das die extremen Härten der Rassenkonflikte überwunden hat und in dem sich das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen durch die große Zuwanderung aus Lateinamerika zu verschieben beginnt. Unklar bleibt noch, welche Konsequenzen solche Veränderungen für die amerikanische Innen- und Außenpolitik mit sich bringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich Amerika in der Rolle des bewaffneten Beschützers der Demokratie in aller Welt, aber die Bereitschaft, sich militärisch in anderen Ländern zu engagieren, hat im letzten Jahrzehnt nach den negativen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan deutlich nachgelassen. Neue Kriegstechniken, wie der Einsatz von Drohnen, werden den USA die moralische Auseinandersetzung über derartige Einsätze nicht ersparen. Amerika ist mächtiger als alle anderen, aber es hat bisher keine umfassenden neuen Ideen für seine Politik gegenüber den Staaten der Dritten Welt, gegenüber Russland und der neuen Großmacht China gefunden, die die eigenen Bürger überzeugen. Der Mehrheit der Amerikaner steht nicht der Sinn nach weiteren großen militärischen Unternehmungen oder einem stärkeren Engagement in der internationalen Politik.
In Europa haben die Zwänge der Innenpolitik und die Auswirkungen von Wirtschafts- und Finanzkrise dem Europa-Idealismus klare Grenzen aufgezeigt. Die Auseinandersetzung um die Zukunft des Kontinents tritt hinter wirtschafts- und sozialpolitische Erwartungen zurück, und dem früheren Enthusiasmus der neu gegründeten Europäischen Gemeinschaft ist der ärgerliche und quälende Streit über die Verteilung der Leistungen von Wirtschafts- und Finanzpolitik gefolgt. Die Zeit der großen Hoffnung auf ein neues Europa, das auf gemeinsame Entschlüsse setzt, scheint vorüber. Und dabei können doch auch bei unseren Nachbarn Spannungen und Gegensätze
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