Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
schließlich durch die Straßenschluchten zu einem großen Studentenheim der Rockefeller-Stiftung. Ich war viel zu aufgeregt, um mich in meinem Zimmer zu erholen, wie es der Reiseleiter empfohlen hatte. Schon eine halbe Stunde nach der Ankunft war ich mit einem Kollegen wieder unterwegs, und bei Sonnenuntergang standen wir auf der Aussichtsplattform des Empire State Building, fasziniert von den glitzernden Fensterfronten der Hochhäuser, hinter denen eine unendliche Zahl von Lichtern aufleuchtete. Von einer Wolkenkratzer-Stadt hatten wir natürlich schon in Deutschland gelesen, auch Fotografien gesehen, aber die Wirklichkeit war nun ein überwältigendes Erlebnis. Fast bis Mitternacht blickten wir von oben rundum auf dieses Städtewunder, das einer anderen Welt und einem anderen Jahrhundert anzugehören schien.
Das State Department hatte einen Politologen beauftragt, uns Amerika zu zeigen und zu erklären. Der Mann, ein bekannter österreichischer Akademiker, der nach Amerika emigriert war, hatte freilich keine allzu große Lust, uns Journalisten die komplizierten Zusammenhänge in seinem neuen Heimatland nahezubringen. Am zweiten Abend saßen wir mit ihm in der Bibliothek des Studentenheims, wo er über die amerikanische Innenpolitik referierte. Ein junger Schwarzer hatte zuvor in dem Raum Klavier gespielt, lehnte nun im Halbschlaf auf dem Flügel und wartete darauf, dass wir wieder gingen. Als sich die Runde schließlich wieder auflöste, musizierte er weiter, schön und jazzig, wie ich fand, und so blieb ich sitzen, um ihm zuzuhören. Nach einer halben Stunde kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er an diesem Abend ein kleines Konzert geben würde, um damit etwas Geld zu verdienen. Leider aber besitze er kein Jackett, und in Hemdsärmeln könne er nicht auftreten. Ob ich ihm wohl für diesen Abend meine Jacke leihen könne? Am nächsten Morgen wolle er sie mir zurückbringen. Was sollte ich machen? Wir kannten uns nicht, aber ich fand ihn nett, und irgendwie wäre es mir peinlich gewesen, ihm seine Bitte abzuschlagen. Er verschwand dann mit meiner Jacke, und ich hatte eine etwas unruhige Nacht, aber tatsächlich klopfte er am nächsten Morgen um sieben an meine Tür und brachte sie zurück. Er habe am Abend noch ein Konzert, sagte er, und wenn ich noch eine zweite Jacke hätte, würde er mich mitnehmen.
Also trafen wir uns am Abend wieder. Tagsüber hatte unsere Gruppe eine große Besichtigungstour durch New York gemacht, die uns vom Bankenviertel an der Wall Street über das Boheme-Viertel Greenwich Village und die eleganten Ladenstraßen um die Fifth Avenue bis zur Studentenmensa der Columbia-Universität geführt hatte. Nun zog mein neuer Freund zu Fuß mit mir los. Wir gingen bloß fünfzehn Minuten Richtung Norden und waren doch plötzlich gänzlich anderswo. Mir war etwas unheimlich zumute, denn ich sah keine Weißen mehr, nur noch Schwarze, die man damals auch in Harlem noch ganz unbefangen »negroes« nannte. Auf den Straßen herrschte lautes, quirliges Leben. Mein Freund zeigte mir ein paar Theater und Bars und erzählte, was in Harlem gerade angesagt sei.
Zu meiner Überraschung fand das Konzert nicht in einem Saal, sondern in einer großen Privatwohnung statt, einem Apartment mit vielen Zimmern. Mein Freund setzte sich im großen Empfangsraum an den Flügel und begann zu spielen. Um mich herum kein einziges weißes Gesicht, stattdessen eine Reihe junger schwarzer Frauen, ziemlich sexy aufgemacht. Ab und zu kamen recht smart gekleidete, aber nicht sonderlich seriös wirkende Männer, redeten mit den Frauen und verschwanden mit der einen oder anderen im Nebenzimmer. Mich beäugten sie neugierig und ein bisschen misstrauisch. Mein Freund gab ein Konzert besonderer Art: Er spielte in einem Bordell. Zwischendurch fragte ihn eine der Frauen, wieso er mich mitgebracht habe, und dann erzählte er, ich sei ein besonders netter Deutscher, überhaupt kein Rassist und so hilfsbereit, dass ich ihm sogar meine Jacke geliehen hätte. Das fanden die Damen und ihre Kunden offenbar bemerkenswert, und einige versuchten, mit mir ins Gespräch zu kommen. Sie hatten noch nie mit einem Weißen zusammengesessen, schon gar nicht mit einem Deutschen. Es beunruhigte mich ein wenig, als sie fragten, wie viel Geld ich bei mir hätte. Sie luden den jungen Pianisten und mich schließlich zum Cocktail ein. Zwei der Männer, die sich zu uns gesellten, waren als Besatzungssoldaten in Deutschland gewesen, wo es ihnen
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