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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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lokalen Behörden und Gerichten geschlossen zu werden, sondern trug ihr auch den Ruf einer Art kommunistischer Institution ein, die keinerlei staatlichen Schutz verdiente. Alle paar Wochen stoppten vorbeifahrende Autos. Dann zogen Schüler und Lehrer den Kopf ein und kauerten auf dem Boden der Klassenräume, weil manchmal aus solchen Autos heraus auf die Fenster des Schulgebäudes geschossen wurde. Weder der örtliche Sheriff noch die Gerichte gingen gegen solche Überfälle vor, die an der Außenwand der Schule ihre Spuren hinterlassen hatten.
    In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre wendete sich die Schule immer stärker dem Kampf gegen die Segregation zu und holte nun immer mehr Schwarze in ihre Kurse. Dadurch wurde die Highlander Folk School auch im Norden der USA bekannt. Angesehene Wissenschaftler, Theologen, Schriftsteller und Musiker unterstützten die Einrichtung, später kam sogar Eleanor Roosevelt, die charismatische Witwe des ehemaligen Präsidenten, zu Besuch. Zu denen, die sich dort ausbilden ließen, gehörte auch ein junger schwarzer Geistlicher, Martin Luther King. Er ließ sich hier in die Philosophie und Praxis des gewaltlosen Widerstands einführen, ebenso wie Rosa Parks, die sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery im Bundesstaat Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizumachen. Damit löste sie in der Stadt monatelange Proteste gegen die Rassentrennung in Autobussen, Zügen, Restaurants, Hotels oder Kinos aus. An der Schule sammelte man aber auch die Lieder der armen Weißen aus den Tennessee Mountains und anderen Regionen. Einem alten protestantischen Kirchenlied aus dieser Tradition begegnete ich dort zum ersten Mal. Zehn Jahre später sollte »We shall overcome« zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung werden, gesungen von Hunderttausenden auf den Demonstrationen in den Großstädten und in der Hauptstadt Washington.
    Mich hat die frühe Begegnung mit Menschen, die für Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit kämpften, sicher davor bewahrt, in jenen blinden Antiamerikanismus zu verfallen, der später die kritische Haltung vieler junger Europäer mitgeprägt hat. Als ich die Highlander Folk School nach einigen Tagen wieder verließ, ging meine Reise weiter durch die Kornfelder des Mittleren Westens und durch die Industriestädte des Ostens. Auch meine Erlebnisse im weiteren Verlauf der Fahrt zeigten mir deutlich, dass sich meine Erwartungen an das reiche und mächtige Amerika keineswegs auf die Alltagswirklichkeit des Landes übertragen ließen. Was ich in meiner ersten großen Reisereportage über das Hinterland der modernen Städte schrieb, weiß ich nicht mehr genau. Aber der Titel, scheint mir, spricht für sich: »Gottes eigenes Panoptikum«.
    Viele, denen ich begegnete, waren neugierig zu hören, was ein junger Deutscher wenige Jahre nach dem Ende der Hitlerherrschaft dachte und sagte. Vor allem in New York mit seinen zahlreichen Intellektuellen und jüdischen Emigranten fragte man mich nach den politischen Vorstellungen in meiner Heimat. Im Mittleren Westen und den kleineren Städten dagegen, auf den Partys des Mittelstands, der Ärzte, Anwälte und Geschäftsleute, erschöpfte sich das Interesse an der deutschen Vergangenheit und Gegenwart meist ziemlich schnell. Zu Hause hatten mich Kollegen gewarnt, ich würde in Amerika auf eine regelrechte Deutschfeindlichkeit stoßen. Aber eine solche Haltung war kaum zu bemerken. Einmal allerdings überraschte mich eine Frau, als ich ihr vorgestellt wurde. »Oh really«, sagte sie zu mir, »I never thought I’d see a real Nazi alive.« Und dann fing sie an, mich regelrecht zu bemuttern.
    Einige Tage verbrachte ich auch in Madison, wo ich mit amerikanischen Studenten ins Gespräch kam. Im Bundesstaat Wisconsin mit seinen vielen Einwohnern deutscher Abstammung, mit seinen deutschen Brauereien und dem deutschen Ordnungssinn stellten mir die jungen Amerikaner kaum Fragen nach den Nazijahren. Gleichzeitig stand für sie unumstößlich fest, dass Amerika das beste aller Länder sei. Sie überlegten allen Ernstes, wie ich wohl an ein amerikanisches Einwanderungsvisum gelangen könne, und heckten schließlich einen Plan aus: Zwei Studenten, die für die Armee gemustert werden sollten, würden mich mitnehmen und dort einschmuggeln. Mein Englisch sei gut genug, und es gebe dort so wenig Bürokratie, dass man mich glatt als kriegsdiensttauglich durchwinken würde. Dann wäre es nur noch ein kleiner Schritt, ich würde in die Armee

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