Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Bonn besuchte ein englischer Geistlicher den Bundesjustizminister und erkundigte sich nach der Begründung für die Verhaftung des Chefredakteurs eines DDR -Rundfunksenders. Der war auf einer Reise im Ruhrgebiet verhaftet worden, weil sein Sender von der DDR aus politische Programme für die Bundesrepublik machte, was die bundesdeutsche Justiz als eine Art Rädelsführerschaft zur Unterwanderung und Zerstörung des Landes einstufte. Bald bildeten sich auch bei uns die ersten Gruppen, deren Mitglieder sich gemeinsam in Briefen an ausländische Regierungen für jeweils drei Häftlinge einsetzten. Nur in England wuchs die Zahl solcher Gruppen so schnell wie in der Bundesrepublik. Auch ohne fest etablierte Organisation im Hintergrund waren unsere Freunde schon in den ersten Monaten sehr handlungsfähig.
Im September 1961 lud die Londoner Zentrale nach Luxemburg zur Gründungsversammlung einer übergreifenden internationalen Organisation ein, die einen gemeinsamen Namen tragen sollte. Die Bezeichnung Amnestie-Appell e.V. hatten wir in Anlehnung an das englische Vorbild für Deutschland gewählt – wohl wissend, dass Amnestie, also Straferlass, nicht das Hauptziel unserer Bemühungen sein könnte, denn damit hätten wir indirekt die Verurteilung der Gefangenen akzeptiert. Die Namensdiskussion schien zwischen Engländern, Deutschen, Belgiern, Holländern und Franzosen unlösbar, als Peter Benenson einen ganz einfachen Vorschlag machte: Amnesty International. Das, so klagten die Franzosen, sei doch kein Programm und eigentlich bedeutungsleer. Die pragmatischen Engländer und Iren hielten jedoch dagegen: Man könne ihn sich leicht merken, und wenn wir unsere Sache gut machten, dann würden sich die Leute an jeden Namen gewöhnen. Das überzeugte schließlich alle.
Die AI -Gruppen sahen sich lange Zeit unterschiedlichsten politischen Verdächtigungen ausgesetzt. Man warf ihnen vor, kommunistische Mitläufer zu sein, womöglich vom KGB oder von der Stasi gesteuert, wenn sie etwa nach KPD -Verbotsprozessen gegen die Inhaftierung von Kommunisten in der Bundesrepublik protestierten. In Hannover gerieten AI -Mitglieder, die eine Demonstration gegen Folter anmelden wollten, als politisch verdächtig in die Akten des Verfassungsschutzes. Dagegen bezichtigten die östlichen Geheimdienste unsere Mitglieder der Agententätigkeit für die CIA oder andere westliche Nachrichtendienste. In der DDR urteilte der Staatssicherheitsdienst, Amnesty International sei eine »Organisation mit nachrichtendienstlichem Charakter, die in den sozialistischen Staaten die Tätigkeit imperialistischer und feindlicher Organisationen« unterstütze.
Um solchen Beschuldigungen den Boden zu entziehen, setzten wir auf unsere kleinen Dreiergruppen. In einer Zeit wachsender Spannungen zwischen Ost und West fiel es manchen von uns durchaus schwer, sich ebenso für einen kommunistischen Häftling in Spanien einzusetzen wie für einen verfolgten Geistlichen in Osteuropa. Doch letztlich überzeugte gerade die Mischung der von uns unterstützten Gefangenen auch diejenigen, die zuerst Sorge gehabt hatten, in einen politischen Propagandakrieg hineingezogen zu werden. Außerdem half es uns, dass sich eine Reihe bekannter deutscher Politiker und Professoren öffentlich für Amnesty International engagierten – jüngere Leute, die später zum Teil Regierungsämter übernahmen, wie etwa Hans Matthöfer oder die Professoren Ulrich Klug und Horst Ehmke, oder ältere, wie Gustav Heinemann und seine Frau Hilda. Ihre Namen und Netzwerke dienten als eine Art Schutzschild und waren besonders wichtig für AI -Mitglieder in kleinen ländlichen Orten, wo sich immer noch jeder verdächtig machte, der für einen ungerecht verfolgten Linken oder für einen schwarzen Freiheitskämpfer eintrat.
Ein Jahr nach der Gründung von Amnesty International bewies eine Polizeiaktion in Deutschland, wie gefährdet die Pressefreiheit auch in demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik war. Am 26. Oktober 1962 stand abends um zehn Uhr die Polizei vor dem Pressehaus in Hamburg. Sie hatte Haftbefehle gegen den Herausgeber und Chefredakteur des Spiegel , Rudolf Augstein, den stellvertretenden Chefredakteur Conrad Ahlers und andere Spiegel -Redakteure dabei. Conrad Ahlers hatte in einem Artikel mit dem Titel »Bedingt abwehrbereit« die Schwächen und Gefahren der Bonner Verteidigungspolitik dargestellt. Nun lautete der Vorwurf, der Artikel habe militärische Maßnahmen der Bundeswehr so offen
Weitere Kostenlose Bücher