Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Gefangene in der DDR , andere inhaftierte Kommunisten in der Bundesrepublik. Die politische Einseitigkeit dieser Gruppierungen hatte mich und andere allerdings bis dahin von einem Engagement abgehalten. Das Konzept, das Eric Baker uns vorstellte, sah nun anders aus: In der neu gegründeten englischen Vereinigung setzten sich die Mitglieder in kleinen Gruppen für jeweils drei Gefangene ein, für einen aus dem Osten, einen aus dem Westen und einen aus der Dritten Welt. Wenn man gleichzeitig verschiedene Gefangene mit unterschiedlichem politischem Hintergrund unterstützte, so die Idee, konnte man nicht von der einen oder anderen Seite vereinnahmt oder missbraucht werden. Das klang glaubwürdig. Trotzdem schien es uns ein gewagter Versuch zu sein, ausgerechnet Anfang der sechziger Jahre, als der Kalte Krieg auf den Höhepunkt zusteuerte, für Menschenrechte und Meinungsfreiheit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs einzutreten. In Moskau begannen zum ersten Mal seit Stalins Tod wieder die Dissidentenverfolgungen. Mitten in Deutschland wurde die Mauer hochgezogen. In Afrika und Asien erhoben sich Menschen gegen ihre Kolonialherren oder deren einheimische Nachfolger.
Noch am Abend von Bakers Besuch fand sich der Kern der Gründer des Amnestie-Appells zusammen. Die Journalistin und Lektorin Carola Stern hatte ihre Jugend im BDM erlebt und war nach dem Krieg Mitglied der SED gewesen, ehe sie schließlich mit vielen Erinnerungen an Disziplinierung und Unterdrückung in den Westen kam. Mein Freund Wolfgang Leonhard, dem ich zuerst in Belgrad begegnet war, war als Emigrantenkind in der Sowjetunion aufgewachsen und hatte sich dem Druck der Partei durch die Flucht aus der DDR nach Jugoslawien und dann in die Bundesrepublik entzogen. Die Journalistin Sabine Rühle war mit vielen Schriftstellern verbunden, deren Meinungsfreiheit in der DDR immer stärker eingeschränkt wurde. Felix Rexhausen war ein homosexueller Satiriker, der wusste, dass der Paragraph 175 nicht nur unter den Nazis, sondern auch in der Bundesrepublik Leben zerstören konnte. Ich selbst hatte als junger Schüler die Studenten der Weißen Rose bewundert, ihre Hinrichtung hatte mich erschüttert. Außerdem verehrte ich Gustav Heinemann, den späteren Bundespräsidenten, der in der Nazizeit zur oppositionellen Bekennenden Kirche gehört hatte und nun als Anwalt in politischen Prozessen auch für die Meinungsfreiheit deutscher Kommunisten eintrat.
In den nächsten Wochen staunten wir, wie viele Leute das Prinzip der Dreiergruppen einleuchtend fanden und bereit waren, uns zu unterstützen. Das Bedürfnis, sich für politische und religiöse Meinungsfreiheit einzusetzen, schien weit verbreitet. Darauf waren wir nicht vorbereitet gewesen, als wir den Verein Amnestie-Appell e.V. gründeten. Überhaupt ging es in den ersten Wochen einigermaßen chaotisch zu. Wir hatten keine Ahnung, wie die juristischen und organisatorischen Grundlagen einer solchen Vereinigung aussehen mussten. So glaubten wir, man bräuchte mindestens siebzehn Mitglieder, um sich offiziell registrieren zu lassen. Eine Woche später saßen wir mit zwanzig Leuten bei einem Notar, obwohl sieben von uns ausgereicht hätten. Wir hatten kein Büro und auch kein Konto. Ein jüdischer Professor aus Berlin, der einst vor den Nazis geflohen war, schickte uns einen Scheck über 3000 D-Mark. Das war eine enorm hohe Summe für uns, doch wir konnten das Geld wochenlang nicht annehmen und verbuchen. Felix Rexhausen, unser erster Schatzmeister, hatte zwar Volkswirtschaft studiert, aber im Umgang mit Geld besaß auch er wenig Erfahrung. Er bekam sehr schnell viel zu tun, zunächst mit den kleineren Beträgen, bald aber auch mit größeren Summen. Unsere Bitten um finanzielle Unterstützung wurden in unerwartetem Maße erhört: Berthold Beitz, Chef des Krupp-Konzerns, der im Zweiten Weltkrieg in Polen vielen Juden das Leben gerettet hatte, spendete 10 000 D-Mark. Hans Matthöfer von der IG Metall steuerte ebenfalls 10 000 D-Mark bei. Und auch der Kölner Kardinal Frings war bereit, dieselbe hohe Summe für unser Startkapital zu geben.
Mit den Geldern finanzierten wir die ersten Informationsreisen der Londoner Zentrale. Ein katholischer Kommunist aus Frankreich fuhr in die Tschechoslowakei, um für gefangene Geistliche einzutreten. Ein indischer Gewerkschafter, der auf Besuch in England war, reiste für uns in die DDR und setzte sich für einen dort inhaftierten linken Gewerkschafter aus der Bundesrepublik ein. In
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