Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
mitunter tief in das Leben der Familien hineinwirkte. Wir hörten von Vätern, die sich weigerten, die Sendung gemeinsam mit ihren Kindern anzusehen, und sich mit dem Fernsehgerät im Wohnzimmer einschlossen. In der Familie eines deutschen Botschafters, der kein Nazi gewesen war, aber als junger Diplomat der Hitler-Regierung gedient hatte, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und seinen beiden Töchtern. »Und für dieses Schwein hast du gearbeitet!«, schrien sie ihren Vater nach einer der Sendungen an, um dann kurz darauf aus der elterlichen Wohnung auszuziehen. Es gab eine ganze Reihe solcher Berichte. In ihnen kündigte sich bereits der Generationenkonflikt an, der gegen Ende des Jahrzehnts in die große Protestbewegung der Achtundsechziger münden sollte. Zugleich bemerkten wir eine Reaktion bei jüngeren Leuten, die uns die Auswahl der Bilder überdenken ließ. Je mehr von Hitler zu sehen war – besonders wenn er eine Rede hielt –, umso unerklärlicher war sein Erfolg für jüngere Zuschauer. Wie hatten ihre Eltern nur diesen hysterisch schreienden Kerl zu ihrem Führer, zum Oberhaupt des deutschen Staates wählen können? Auch uns hatte diese Frage bedrängt und schließlich vor die schwierige Abwägung gestellt, wie viel Hitler in einem Bericht über das Dritte Reich vorkommen konnte, ohne dass alle Schuld am Ende einem wahnsinnigen Führer zugeschoben würde.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist die Kritik an einer auf Bildmaterial und Ereignisabläufe gegründeten Darstellung der Nazijahre und des Kriegsverlaufs gewachsen. Sie habe es den Deutschen – und auch der jüngeren Generation – ermöglicht, die ganze Breite der individuellen oder familiären Verstrickungen in die Nazigräuel zu verdrängen und sich zu entlasten. Zu Beginn der sechziger Jahre dagegen lautete der Vorwurf, unsere Serie habe nicht deutlich genug gezeigt, aus welchen Wurzeln Hitler und der Nationalsozialismus ihre Kraft gezogen hätten: aus Not und Arbeitslosigkeit, aus der schrecklichen Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, aus dem einseitigen Schuldspruch des Versailler Vertrags. Eine Mehrheit der Intendanten entschied sich dafür, dass auch die Leiden der Deutschen im Rahmen dieser Dokumentation gezeigt werden sollten. So kam es zu dem fünfzehnten Teil der Serie. Aber daran war ich schon nicht mehr beteiligt, denn inzwischen arbeitete ich wieder als Korrespondent im Ausland.
Neben der Arbeit an der Fernsehserie beobachtete ich in diesen Jahren aufmerksam die internationale Entwicklung. Es war die Zeit der großen und explosiven Gegensätze zwischen Ost und West – für mich begann hier aber auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage der politischen Gefangenen, der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit. Die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion hatten sich zugespitzt, nachdem die Sowjets am 1. Mai 1960 ein amerikanisches Spionageflugzeug über ihrem Gebiet abgeschossen hatten. Trotz eindeutiger Beweise gab Präsident Eisenhower erst spät und widerwillig zu, dass er den Flug genehmigt hatte. Eine Entschuldigung aber lehnte er ab, woraufhin Chruschtschow wütend die Einladung für den geplanten Besuch Eisenhowers in Moskau strich. Auch die Gipfelkonferenz, die Mitte Mai in Paris stattfinden sollte, kam nicht zustande. In den Wochen danach beobachtete ich die taktischen Manöver der vier Siegermächte und versuchte, bei den Diplomaten beider Lager, den Strategieplanern und Militärkorrespondenten, Informationen darüber zu bekommen, wie nah diese Spannungen an eine kriegerische Auseinandersetzung führen könnten. Chruschtschows unkontrollierte Wutausbrüche hatten die Situation noch gefährlicher gemacht, und trotzdem schienen sich beide Seiten zu bemühen, nicht noch tiefer in die Gefahrenzone hineingezogen zu werden. Eine Gelegenheit, mehr über die Risiken von geplanten oder ungeplanten Zusammenstößen und über Chancen eines friedlichen Dialogs zu erfahren, bot sich mir schließlich im Oktober 1960 auf der 15. UNO -Vollversammlung in New York. Die Debatte sollte Fragen der Entkolonisierung behandeln, ein Thema, bei dem prosowjetische und prowestliche Ansichten heftig aufeinanderprallten.
Chruschtschow hatte sich in der Sitzung am 12. Oktober mit einem philippinischen Delegierten angelegt, der die Sowjetunion in einer Nebenbemerkung der Verletzung der demokratischen Freiheitsrechte in Osteuropa beschuldigt hatte. Es folgte ein legendärer Auftritt des sowjetischen Parteiführers, den ich
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