Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
eigentlich in der Luft lag. Einige von ihnen, die ständig aus dem Verteidigungsministerium berichteten, hatten schon in der Nacht zuvor bemerkt, dass sich eine wichtige Nachricht ankündigte. Aber an diesem Vormittag gab es nicht viel mehr als Gerüchte, die wir zusammentrugen, austauschten und verglichen. Es habe offenbar etwas mit Chruschtschow zu tun, sagte mir der Reporter der New York Times und fragte mich als Deutschen und ehemaligen Moskau-Korrespondenten, ob sich etwa eine neue verschärfte Belagerung West-Berlins ankündige. Davon hatte ich nichts gehört. Es hatte auch Meldungen über sowjetische Soldaten und Raketenstellungen auf Kuba gegeben, aber Präsident Kennedy hatte sich von Chruschtschow mehrfach versichern lassen, dass es sich dabei lediglich um nichtatomare Verteidigungswaffen handele.
Niemand von uns wusste zu diesem Zeitpunkt, dass der Sicherheitsberater des Präsidenten an diesem Dienstag frühmorgens ins Schlafzimmer von John F. Kennedy gekommen war, um ihm Luftbilder eines Aufklärungsflugzeugs vorzulegen: Die Fotos waren über Kuba aufgenommen worden und zeigten sowjetisches Militär, das Stellungen für Atomraketen ausbaute. Damit begann die dreizehntägige Kubakrise – der Höhepunkt des Kalten Kriegs. Nie zuvor hatten die USA und die Sowjetunion so dicht vor einem Nuklearkrieg gestanden wie in diesen beiden Wochen im Herbst 1962. John F. Kennedy hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Keller des Weißen Hauses Tonbandgeräte aufstellen und mit Mikrofonen in den wichtigsten Büro- und Sitzungsräumen verbinden lassen. Das wussten freilich nur seine engsten Mitarbeiter. Als die Tonaufnahmen Jahrzehnte später veröffentlicht wurden, ließ sich ein komplettes Bild von dem zusammensetzen, was in den Räumen des Präsidenten besprochen worden war und für welche Maßnahmen sich die militärischen und zivilen Experten eingesetzt hatten.
So rief Präsident Kennedy an jenem Dienstagvormittag seinen Bruder Robert, der als Justizminister im Kabinett saß, mit einigen Beratern aus dem Verteidigungs- und Außenministerium zu sich ins Weiße Haus. Sämtliche Experten sprachen sich für Bombenangriffe auf die sowjetischen Raketenstellungen aus. Nur der stellvertretende Außenminister George Ball warnte, ein amerikanischer Überraschungsangriff auf Kuba sei in seiner Bedeutung vergleichbar mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, dem der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg gefolgt war. Andererseits sahen manche Experten in der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba das Vorspiel für eine neue Berlin-Krise. Wenn Präsident Kennedy nicht scharf reagierte, könnten die Sowjets sich ermutigt fühlen, neue Maßnahmen gegen West-Berlin zu ergreifen. Heute weiß man, dass es auf beiden Seiten – in den USA wie in der Sowjetunion – Berater und Politiker gab, die in diesen Tagen bereit waren, das Risiko eines Atomkriegs zwischen den beiden mächtigsten Staaten der Welt einzugehen.
Weder Kennedy noch Chruschtschow konnte öffentlich nachgeben, denn jedes Zugeständnis wäre von der anderen Seite als Zeichen der Schwäche verstanden worden, und das wiederum hätte einen atomaren Konflikt wahrscheinlicher gemacht. Chruschtschow lenkte schließlich als Erster ein. Während die Weltöffentlichkeit noch von einer Verschärfung der Spannungen hörte, hatte er sich schon in einem geheimen Telegramm bereit erklärt, die sowjetischen Atomraketen abzuziehen, wenn Kennedy verspräche, Kuba nicht angreifen zu lassen. Im Weißen Haus glaubte man schon, dem Ende der Krise nahe zu sein, als ein zweites Telegramm eintraf: Die sowjetischen Raketen würden nur dann abgezogen, wenn das Gleiche auch mit den amerikanischen Nuklearraketen in der Türkei geschähe. Im US -Außenministerium fürchtete man die Reaktion der Verbündeten und der amerikanischen Wähler auf einen solchen Tauschhandel. Auf der Ebene normaler Verhandlungen aber kam man nicht mehr weiter. Kennedy schickte deshalb seinen Bruder Robert mit einem Vorschlag zum sowjetischen Botschafter: Die amerikanischen Raketen in der Türkei seien veraltet. Er werde sie ohnehin in einem halben Jahr abziehen. Falls aber die sowjetische Seite behaupten sollte, dies sei ein Tauschgeschäft, wie es Chruschtschow vorgeschlagen habe, werde man die Raketen dort belassen und die Krise werde sich weiter verschärfen. Die Öffentlichkeit erfuhr von alldem nichts. Chruschtschow und Kennedy hatten nahe am Rande eines atomaren Kriegs einen Ausweg gefunden, um die
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