Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
von der Pressetribüne aus beobachtete: Chruschtschow saß an seinem Platz und schien sich unter sein Pult zu beugen und etwas heraufzuholen. Einige Beobachter behaupteten, er habe seinen Schuh ausgezogen und damit auf das Pult gehämmert. Andere berichteten, er habe den Schuh in der einen Hand gehalten und mit der anderen geklopft. So genau konnte ich das auch nicht sehen. Die Fotografen hatten ihre Kameras auf Chruschtschow gerichtet, aber niemand schoss ein Foto von der vielzitierten Szene. Es gibt nur ein Bild, auf dem ein brauner Halbschuh auf Chruschtschows Pult in der UNO steht, während er ruhig dahintersitzt. Auf anderen Bildern sieht man ihn mit erhobenen Händen gestikulieren, allerdings ohne Schuh. Auch wenn es das berühmte Schuhklopfen womöglich nie gegeben hat, verstärkte sich in der Welt doch die Meinung, Chruschtschow sei ein völlig unberechenbarer Mann.
Darüber diskutierten wir unter Kollegen und Experten, als wir nach der Sitzung in der Vorhalle des Plenarsaals zusammenkamen. Ein englischer Beobachter, mit dem ich ins Gespräch kam, fragte nachdenklich, ob es klug von dem philippinischen Delegierten gewesen sei, die Verletzung der Freiheitsrechte in Osteuropa in die Debatte hineinzuziehen. Grundsätzlich sei es ja richtig, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit im sowjetischen Machtbereich nicht aus dem Blick zu verlieren, aber man habe in dieser Situation kaum etwas anderes als eine grobe Antwort erwarten können. Wir überlegten gemeinsam, wie man das Problem der Meinungsfreiheit und der politischen Gefangenen überhaupt an Chruschtschow und andere einflussreiche Staatsmänner herantragen könnte. Mein englischer Gesprächspartner, ein Anwalt namens Peter Benenson, sagte halb ernst und halb im Spaß zu mir, man müsse ganz andere, unkonventionelle Einfälle haben, um an solche Politiker heranzukommen. Im Falle Chruschtschows etwa könnte eine Gruppe von fünf oder sechs alten Damen im Foyer seines Hotels warten. Sie hätten die beste Chance, an den Leibwächtern vorbeizukommen, und Chruschtschow wäre wahrscheinlich überrascht genug, um ihnen zuzuhören und eine Petition entgegenzunehmen. Wir lachten bei der Vorstellung eines von alten Damen umringten Chruschtschow. Aber ganz absurd erschien mir der Gedanke nicht. Wir tauschten unsere Adressen aus. Wenn ich einmal in London sei, wollten wir uns treffen.
Das Thema der Menschenrechte beschäftigte mich auch, als ich am Rande der UNO -Sitzung jenen Mann wiedertraf, der unsere kleine Gruppe deutscher Journalisten zehn Jahre zuvor betreut und auf Rundreisen durch die USA geschickt hatte. Mir war damals schon aufgefallen, wie offen Clark Foreman die Rassendiskriminierung angesprochen hatte. Nun hatte er eine kleine Vereinigung gegründet, die sich Emergency Civil Liberties Committee nannte. Sie bemühte sich, in Gerichtsverfahren gegen Schwarze, Linke und angebliche Kommunisten schnell für juristischen Beistand zu sorgen. Zu den Mitgliedern zählten einige bekannte Personen wie Eleanor Roosevelt, die meisten aber waren Studenten, Professoren und Anwälte, die von Fall zu Fall die Öffentlichkeit auf Rechtsverletzungen aufmerksam machten.
Im Sommer 1961 erhielt ich einen Anruf von einem Mann aus London, der mir Grüße von Peter Benenson bestellte. Benenson selbst hatte kurz zuvor mit einem langen Zeitungsartikel so eindrucksvoll auf die Situation der politischen Gefangenen hingewiesen, dass eine Reihe englischer Juristen, Journalisten und Studenten daraufhin eine Vereinigung namens »Appeal for Amnesty« gründeten. Der Mann, der mich in Köln anrief, hieß Eric Baker und wollte gerne Deutsche kennenlernen, die sich für die Fragen der Menschenrechte interessierten.
So kam an einem Sommerabend in einer Wohnung in Köln, die wir uns vom Kongress für die Freiheit der Kultur geliehen hatten, eine kleine Gesellschaft von Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen zusammen. Als Eric Baker an der Tür klingelte, saßen um die zwanzig Schauspieler, Schriftsteller und junge Journalisten mit dem Weinglas in der Hand beisammen und unterhielten sich über Literatur und Politik. Baker begann über die neue englische Vereinigung zu erzählen. Sie werde für politische Gefangene eintreten, die wegen ihrer Meinung oder ihres Glaubens verfolgt würden. Nun wolle er auch in Deutschland Mitstreiter finden. Es gab zu dem Zeitpunkt in der Bundesrepublik zwar bereits Organisationen, die für politische Verfolgte eintraten – manche unterstützten
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