Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Es gebe Gerüchte, dass die Lage unsicher sei. Eine Stunde später sprach er bereits von der Gefahr »militärischer Zusammenstöße«, ein Ausdruck, den er vorher nie benutzt hatte. Mit uns am Strand lag der französische Konsul aus Saigon. Obwohl er uns als langjähriger Indochina-Kenner versicherte, eine gewaltsame Störung des Tet-Festes sei ausgeschlossen, fuhren wir sofort ab. Der Diplomat blieb zurück – und konnte erst zwei Wochen später die Reise in die Hauptstadt antreten. Tatsächlich hatten an diesem 30. Januar die nordvietnamesische Armee und die Guerillatruppen des Vietcong auf breiter Front einen Überraschungsangriff gegen die Stellungen der Südvietnamesen und ihrer amerikanischen Verbündeten begonnen.
Die Innenstadt Saigons schien ruhig, als wir von der Küste zurückkamen. Dann jedoch bogen wir in eine Nebenstraße ein, die nach etwa fünfzig Metern gesperrt war. Schon während wir umzudrehen versuchten, fielen von vorn die ersten Schüsse. Gleich danach wurde auch aus der Richtung, aus der wir gerade gekommen waren, auf uns geschossen. Unser Dolmetscher, dem der Wagen gehörte, setzte das Auto nahe an eine Hauswand, wir krochen heraus und legten uns auf den Boden. Dieter Perschke war vorher ausgestiegen, um einen guten Drehort zu suchen. Nun konnte er nicht über die Straße zu seiner Kamera zurück. Sein Assistent lag halb unter dem Auto und filmte, was er konnte. Zehn Minuten lang ging der Beschuss weiter, dann fuhren wir so schnell wie möglich aus dem gefährlichen Engpass heraus. Alles war gut gegangen, wir hatten sogar Filmmaterial, auf dem die Schützen entfernt zu erkennen waren. Anschließend sorgten nur noch die vier Einschusslöcher in der Karosserie unseres Wagens für Schwierigkeiten. Die Verwaltungsleitung beim Westdeutschen Rundfunk hatte entschieden, dass der Schaden nicht Sache des Senders, sondern des Dolmetschers sei, in dessen Wagen wir mitgefahren waren. Er habe die Reparatur an seinem Auto selbst zu zahlen, hieß es. Das war ärgerlich, hatte aber auch sein Gutes: Als der Intendant in Köln auf meine Bitte hin entschied, dem Dolmetscher die Reparaturkosten zu ersetzen, revanchierte sich dieser bei mir durch freiwillige Einsätze. Er nahm mich in das buddhistische Kloster mit, das in Saigon das Zentrum des intellektuellen Widerstands nicht nur gegen die Amerikaner, sondern auch gegen die vietnamesischen Kommunisten und die eigene südvietnamesische Regierung war. Es war zugleich der stärkste Stützpunkt der Friedensbewegung, deren Anhänger – meist junge Leute und Professoren der Universität – Verhandlungen zwischen Nord- und Südvietnam forderten.
Mein Dolmetscher brachte mich auch in Kontakt mit kleinen Gruppen vietnamesischer Intellektueller, von denen die meisten in Frankreich studiert hatten. Sie erzählten mir von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die französischen Kolonialtruppen, die der Kollaborationsregierung in Vichy unterstanden, gemeinsam mit japanischen Eroberern in Vietnam operierten. Aber dann hatten die Japaner ein unabhängiges Kaiserreich Vietnam ausgerufen und das französische Militär interniert. Es waren höchst komplizierte und verworrene Geschichten über Bündnisse, in denen Amerikaner und Chinesen den Aufstand der vietnamesischen Kommunisten gegen die Franzosen unterstützten, während diese über sechshundert Japaner zur Ausbildung ihrer Truppen anheuerten. Solche Zusammenhänge waren den Amerikanern und den Europäern kaum verständlich und bis dahin hinter den offiziellen Kriegsberichten verborgen geblieben. Die vietnamesischen Intellektuellen, mit denen ich sprach, waren besonders verbittert darüber, dass ihre linken Freunde in Westeuropa nicht zur Kenntnis nehmen wollten, auf welch brutale Weise die Kommunisten in Nordvietnam ihre Macht durchgesetzt hatten. Dort hatten in der letzten großen Säuberung nach der Art Stalins wohl eine halbe Million Menschen ihr Leben verloren. Fernsehbilder, auf denen junge Europäer mit dem Ruf »Ho, Ho, Ho Chi Minh« gegen den Krieg und die Amerikaner demonstrierten, waren meinen vietnamesischen Gesprächspartnern jedenfalls schwer verständlich.
Mein Team und ich bemühten uns, wenigstens einen kleinen Teil von dem, was man vom Krieg sehen konnte, mit der Kamera festzuhalten. Da gab es erschütternde Bilder, wenn amerikanische Hubschrauber unmittelbar über unseren Köpfen Raketen in eine südvietnamesische Vorstadtstraße jagten oder, noch erschreckender, als wenige Meter von uns entfernt ein
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