Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Krankenwagen schweigend nach, unsicher, was sie denken oder sagen sollten: John F. Kennedy war erschossen worden, Martin Luther King war erschossen worden, nun war auch auf Robert Kennedy ein Attentat verübt worden. Ein paar junge Frauen hielten sich an den Händen und begannen halblaut zu singen: »We shall overcome«. Es klang wie ein letztes Versprechen aus der Zeit großer Hoffnungen. Mich hatte dieses Lied fast zwei Jahrzehnte durch Amerika begleitet: An der Highlander Folk School hatte ich es zum ersten Mal gehört. Ich hörte es dann, als ich die junge Sängerin Joan Baez zu ihrem ersten Konzert in New York begleitete und als sie mich zum Newport Folk Festival mitnahm, wo es der junge Bob Dylan sang. Ich erinnerte mich an den Abend in Selma, als ich mit jungen Schwarzen zusammen die Radioübertragung jener Rede im Kongress hörte, in der Präsident Johnson zur Überraschung aller ein neues Amerika mit den Worten »We shall overcome« ankündigte. Nun blickte ich dem Krankenwagen nach, mit dem Robert Kennedy ins Krankenhaus gefahren wurde, wo er einen Tag später starb.
»Sie essen Suppe bei der ARD ?«
Bonn 1969–1972
Im Januar 1969 zog Richard Nixon ins Weiße Haus ein, entschlossen, die amerikanische Politik von seinem Arbeitszimmer aus mit seiner eigenen Mannschaft zu bestimmen und nicht mehr den erregten öffentlichen Diskussionen zu überlassen, die Amerika im Jahrzehnt zuvor erschüttert hatten. Nixon war misstrauisch gegen alle unabhängigen liberalen Kritiker und auch gegen fast alle Journalisten. Die Arbeit der White-House-Korrespondenten verlor an Reiz, weil es zu persönlichen Begegnungen mit dem Präsidenten und seinen Experten nicht mehr kam. Das machte mir den Umzug nach Deutschland leichter, wo ich die Leitung des Bonner Studios der ARD übernehmen sollte.
Als Korrespondent in der Sowjetunion und in den USA hatte ich stets aufmerksam die Auseinandersetzungen über die Zukunft Deutschlands beobachtet. Es war zu spüren, dass sich in den Hauptstädten beider Supermächte Entscheidungen über die Deutschlandpolitik vorbereiteten, und ich war gespannt darauf, wie sich die Bonner auf diese neue Lage einstellen würden. Tatsächlich versprach das politische Geschehen hier interessant zu werden. Die Ära der CDU -geführten Regierungen unter Adenauer und Erhard wurde nach dem Zwischenspiel der Großen Koalition im Herbst 1969 durch die neue Regierungskoalition aus SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel beendet. Damit war die Zeit, in der die Entscheidungen innerhalb des Regierungsapparats getroffen und dann in den Parlamentsdebatten nur noch mit vorhersehbarem Ergebnis diskutiert wurden, vorbei, und der neue Kurs, den die Regierung Brandt in der Ostpolitik einschlug, brachte Bewegung in die festgefahrene Konfrontation auf einem Gebiet, das mich seit Jahren besonders interessierte.
Die Bundeshauptstadt Bonn sei noch langweiliger als Washington, so hatten mich Diplomaten gewarnt. Tatsächlich bestand Bonn auf eigenartige Weise aus einer Reihe von Kleinstädten, die miteinander fast nicht kommunizierten. Da gab es – unmittelbar wichtig für uns Journalisten – den politischen Komplex mit den Parteien und der Regierung. Dann den riesigen Beamtenapparat der Ministerien, dessen Mitglieder am liebsten unter sich blieben, dazu die »Reisegesellschaft« der Bundestagsabgeordneten, die von Freitagmittag bis Montag in ihre Wahlkreise verschwanden. Dann war da die nicht sehr große Kolonie der Diplomaten, von denen nur ein kleiner, wenn auch interessanter Teil den Kontakt mit der deutschen Politik und Kultur suchte. Dazu gab es noch die Universität, die kaum Verbindungen zum politischen Bonn unterhielt, und schließlich die Bonner Bürger, die mit alldem nichts zu tun haben wollten und eigentlich dem Verlust ihres rheinischen Kleinstadtlebens nachtrauerten.
Die Journalisten in der Bundeshauptstadt waren eine eigene Gruppe am Rande des Politikbetriebs – überall ein bisschen mit dabei, aber in ihrer Mehrheit doch fest verbunden mit bestimmten Vertretern von Parteien und Ministerien. Schon unter Bundeskanzler Konrad Adenauer war ein spezielles System der Gesprächskreise entstanden, in denen man einer kleinen Anzahl von ausgewählten Journalisten Informationen und Hinweise zukommen ließen. Das verschaffte solchen Pressevertretern einen Informationsvorsprung und den Politikern den Vorteil, dass ihre Meinungen oder Absichten bereits in der Öffentlichkeit waren,
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