Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
südvietnamesischer General einen Gefangenen mit der Pistole erschoss, der Minuten vorher noch Südvietnamesen aus dem Fenster eines Hauses getötet hatte. Eines immerhin konnten wir deutlich machen: Die nordvietnamesische Tet-Offensive hatte Anfang 1968 für keine der beiden Seiten einen Sieg gebracht, nur die höchsten Verluste seit Beginn des Kriegs. Die fast achtzigtausend kommunistischen Kämpfer, die in mehr als hundert Städten und Ortschaften angetreten waren, hatten zwar keine größeren Orte erobern können, aber in den USA löste die Wucht ihrer Offensive doch einen Schock und höchst unterschiedliche Reaktionen aus: Die Militärs wollten die Schlagkraft der Truppen verstärken, während die meisten Wähler die Kämpfe als Beweis dafür verstanden, dass der Krieg immer größer und blutiger werden würde und am Ende nicht zu gewinnen sei.
Für Präsident Johnson wurde die Lage immer schwieriger, je tiefer sich die USA in diesen südostasiatischen Konflikt verwickelten. Gerade bei jenen, deren Unterstützung er für sein Programm einer sozialpolitisch veränderten Gesellschaft gebraucht hätte, rief die Erfolglosigkeit und Brutalität des Kriegs zunehmend Widerstand hervor. Die Zahl der Friedensmärsche und Protestdemonstrationen wuchs vor allem unter den jüngeren und liberalen Wählern, die eigentlich die natürlichen Verbündeten für seine Reformpolitik gewesen wären. Amerika hatte bereits im Frühjahr 1967 eine beispiellose Antikriegskundgebung erlebt, als sich im New Yorker Central Park 125.000 Menschen versammelten. Ich traf dort Bekannte und Freunde wieder, denen ich während der Bürgerrechtsbewegung begegnet war. Aber diesmal war das Ganze nicht mehr der Aufmarsch einer politischen Bewegung oder pazifistischer, sozialistischer und – wie etwa J. Edgar Hoover, der Chef des FBI , gewohnheitsmäßig erklärte – kommunistischer Gruppen, sondern vielmehr ein Treffen von Tausenden von Individualisten, die den Glauben an die Politik und die Wirksamkeit gesellschaftlicher Proteste und Bewegungen zu verlieren begannen. Sie erwarteten nichts mehr von einem Dialog mit Präsident Johnson und den Realpolitikern, aber auch wenig von jenen Senatoren, die ein Ende des Kriegs in Vietnam forderten.
Innerhalb der New Yorker Protestkundgebung wurde ein neuer Prozess der Entfremdung deutlich. Anfang der sechziger Jahre hatten die Professoren an Amerikas Universitäten noch darüber geklagt, dass sich die Studenten nicht für Politik interessierten. Im Laufe des Jahrzehnts war das anders geworden: Inzwischen klagten Professoren über eine allzu rebellische Ausrichtung ihrer Studenten. Die Taktik der direkten Aktion, der Sitzstreiks oder der zeitweisen Besetzung von Behörden oder Dienststellen, wie sie die Schwarzen in der Black-Power-Bewegung entwickelt hatten, wurde nun gegen die Verwaltungen der Universitäten eingesetzt und gegen ein System, das den Studenten auf unmoralische Weise konformistisch erschien. Einzelne Kadergruppen, die die öffentliche Auseinandersetzung in Bewegung halten wollten, demonstrierten zwar mit den Bildern Maos oder Ho Chi Minhs, doch die meisten jungen Leute, die ihnen folgten, wollten nicht den kommunistischen Umsturz, sondern protestierten vor allem gegen die Struktur und Moral der eigenen Gesellschaft. Sie waren abgestoßen von der Vietnampolitik und enttäuscht von dem Mangel an idealistischer Zielsetzung in der Innenpolitik. So gesellten sich in New York Tausende zu den Protestierenden, die solchen Versammlungen bisher eher fremd gegenübergestanden hatten: Sekretärinnen und Hausfrauen, die mit Sträußen von Forsythien oder Osterglocken gekommen waren und die Blumen freundlich an Mitmarschierer verteilten, junge Männer, die sich das Gesicht mit bunter Farbe bemalt hatten, im Kreis tanzten und den Krieg samt seiner politischen Maschinerie verspotteten. Hier machte sich eine allgemeine Unzufriedenheit mit der amerikanischen Gesellschaft Luft.
Lyndon Johnson spürte, dass seine Zeit als Präsident, der die amerikanische Gesellschaft grundsätzlich verändern konnte, nun vorbei war. Die »Große Gesellschaft« war ein amerikanischer Traum geblieben. Am 31. März 1968 beendete er eine Fernsehansprache mit einer überraschenden Botschaft: Er werde sich nicht mehr um eine Wiederwahl bemühen. Obwohl sich dadurch sein Ansehen in der Bevölkerung zunächst wieder verbesserte, blieb er bei seiner Entscheidung. Nun gab es unter den Demokraten drei Konkurrenten im Kampf um die
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