Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Direktion abgezweigt, nachdem das Studio in Brüssel modern ausgerüstet worden war und wir dessen alte Ausstattung übernehmen durften. Brüssel galt als künftiges Zentrum Europas, Bonn dagegen war als Bundeshauptstadt eine Übergangslösung. Auch unser Studio würde nach der Wiedervereinigung selbstverständlich nach Berlin zurückverlegt, so dachten viele, möglicherweise ins große Funkhaus an der Masurenallee. Irgendwie wirkte in Bonn alles vorläufig und endgültig zugleich.
Die Bundespolitik war zu dieser Zeit mit einem zentralen Thema beschäftigt, das mich schon lange fasziniert hatte. Die Regierung Brandt suchte einen neuen Kurs in der Ostpolitik. Nach Jahren der einseitigen Ausrichtung auf Westeuropa, insbesondere Frankreich, sollte nun das Gespräch mit dem anderen, bis dahin vernachlässigten Partner der westdeutschen Außenpolitik aufgenommen werden. Es ging um die Frage, ob eine Annäherung an die Sowjetunion und damit auch an die anderen Staaten des Ostblocks möglich sei, ohne den Weg zu einer Wiedervereinigung zu verschließen. So war die erste Jahreshälfte 1970 eine Zeit des Abtastens und der Vorverhandlungen zwischen den beiden Regierungen in Bonn und Moskau. Diese Vorgespräche lösten im Bundestag eine erbitterte innenpolitische Auseinandersetzung aus, die oft von Vermutungen oder frei erfundenen Gerüchten beherrscht war. Die Opposition aus CDU / CSU , die von Konrad Adenauer eine Politik der festen Bindungen an Westeuropa und Amerika und ein absolutes Misstrauen gegenüber der Sowjetunion geerbt hatte, sprach vom Ausverkauf bundesdeutscher Interessen. Jede vertragliche Einschränkung der militärisch-politischen Sicherheit sowie des Anspruchs auf Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in Deutschlands alten Grenzen galt ihnen als Verrat. Die westlichen Mächte wiederum wussten, dass eine unbewegliche Haltung Bonns gegenüber Gesprächen mit Moskau eine Entspannungspolitik in Mitteleuropa sehr viel schwerer machen würde. Davon abgesehen, gestalteten sich die Sondierungsgespräche mit der Sowjetunion aber auch deshalb kompliziert, weil die Führung in Moskau innerlich gespalten war. Bei vielen Politikern im Kreml herrschte große Furcht, die sozialistischen Länder Osteuropas könnten sich eines Tages zu stark nach Westen orientieren.
Im Auftrag des Bundeskanzlers hatte Staatssekretär Egon Bahr seit Ende 1969 erste Gesprächskanäle geöffnet und in Moskau Unterredungen von höchster Vertraulichkeit geführt, über die auch das Kabinett oft nur teilweise informiert war. Bahr konnte in diesen Monaten ein kleines, unsichtbares Netz vertraulicher Beziehungen aufbauen, wodurch deutsche Vorschläge nicht von Außenministerium zu Außenministerium übermittelt werden mussten, sondern den inneren Kreis der Breschnew-Berater auf direktem Weg erreichten. Es lag in der Natur der Sache, dass der Inhalt solcher vorbereitenden Gespräche nicht öffentlich bekannt gemacht werden konnte. In Moskau durften die Gegner einer neuen Deutschlandpolitik nicht gereizt werden, und in Bonn konnte der Bundeskanzler keine aufgeheizte Debatte über veränderte Beziehungen zu Moskau gebrauchen – was freilich auch bedeutete, dass diese unterdrückte Diskussion das Misstrauen der Opposition wachsen ließ. Als ich Willy Brandt in diesen Monaten einmal fragte, ob es nicht besser sei, der Öffentlichkeit Klarheit über Absicht und Stand der Moskauer Gespräche Egon Bahrs zu vermitteln, antwortete er: »So genau weiß ich das auch nicht. Das ist alles Egon und die Detektive.« Am Ende sollte sich Brandts großes Vertrauen in seinen Unterhändler auszahlen: Anfang August 1970 war der Boden durch die Vorgespräche so weit bereitet, dass es zu mehrtägigen Verhandlungen zwischen den beiden Außenministern Scheel und Gromyko kam. Kurz darauf konnte Willy Brandt seine Reise zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrags antreten.
Ich hatte als Korrespondent in Moskau, Washington und nun in Bonn viele Jahre hindurch Diskussionen und Verhandlungen über die Ost-West-Beziehungen und die Deutschlandfrage verfolgt. Nun gehörte ich zu der Gruppe deutscher Journalisten, die den Bundeskanzler zu seinen Gesprächen und zur Paraphierung des Vertragswerks in Moskau begleitete. Der Vertragstext, so schien es, war ausgearbeitet und musste nur unterschrieben werden. Wie sich dann jedoch zeigte, hatten die Gäste aus Westdeutschland die Meinungsverschiedenheiten unterschätzt, die immer noch innerhalb der sowjetischen Führung herrschten.
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